Hamburg. Auch mit 73 Jahren wagt der Internist Dr. Uwe Desaga Einsätze für Hilfsorganisationen. Er plant schon die nächste Mission.
In der Mappe auf dem Schreibtisch liegen Laboruntersuchungsergebnisse, in der Ecke steht ein Fahrrad-Ergometer für EKG-Untersuchungen, ein paar Schritte weiter eine Behandlungsliege. Dr. Uwe Desaga, ein freundlicher, bedächtiger älterer Herr, hat vor wenigen Wochen eine kleine Privatpraxis in der Nähe der Isestraße eröffnet. „Ich kann es eben doch nicht lassen“, sagt Desaga (73).
Im Urlaub würde man den Arzt auf einem Kreuzfahrtschiff vermuten, die „Aida“ vielleicht oder die „Queen Elizabeth“. Und in der Tat war Desaga im April auf hoher See unterwegs, sein Schiff war indes von Luxus so weit entfernt wie die Krankenhäuser der Dritten Welt von Hightech-Kliniken westlichen Standards. Desaga hatte nicht einmal eine Kabine, gemeinsam mit den anderen Besatzungsmitgliedern schlief der Mediziner in Doppelstockbetten unter Deck eines 1958 erbauten DDR-Fischkutters, 26 Meter lang, 5,90 Meter breit. Das Klo auf der „Seefuchs“ musste er sich mit der zehnköpfigen Besatzung teilen.
Aber Desaga war ja auch nicht zum Vergnügen unterwegs. Der Internist, Kardiologe und Endrikonologe (Spezialist für Drüsenerkrankungen) rettete für die deutsche Organisation Sea-Eye Flüchtlinge im Mittelmeer. Zwei Wochen kreuzte Desaga mit dem zum Rettungsschiff umgebauten Fischkutter vor der Zwölf-Seemeilen-Zone der libyschen Küste auf und ab, um Menschen zu bergen, die in überfüllten Schlauchbooten um ihr Leben kämpften.
Ätzende Jauche durch Benzin, Salzwasser und Urin
Desaga entschied sich binnen weniger Tage, an der Mission teilzunehmen – Sea-Eye hatte über die Hilfsorganisation German Doctors, die Mediziner auf ehrenamtlicher Basis weltweit in Krisengebiete schickt, dringend nach einem Arzt gesucht. Für Desaga war es bereits der vierte Einsatz für German Doctors, in den Jahren zuvor arbeitete er in den Slums von Bangladesch.
„Wir wurden in Regensburg, dem Sitz der Sea-Eye-Organisation, auf unsere Einsätze gut vorbereitet“, sagt Desaga. „Aber die Realität war dann doch noch einmal ganz anders.“ Junge Männer, die auf den äußeren Gummiwülsten der Boote kauern, während Kinder und Frauen im Innern der Boote etwas mehr Schutz genießen. Und doch leiden auch sie schwer. „Durch Meerwasser, Urin und Benzin bildet sich auf dem Boden der Schlauchboote eine ätzende Jauche“, sagt Desaga, mitunter habe man die Haut fast abziehen können.
Ein Dialysepatient hätte den nächsten Tag nicht überlebt
Bei jedem der geretteten Flüchtlinge musste Desaga entscheiden, wie dringend er ärztlicher Hilfe bedurfte. Ein junger Mann aus dem Sudan habe immer auf seinem Bauch gedeutet. Bei der Untersuchung entdeckte Desaga einen „Shunt“, einen operativ angelegten Zugang für Punktionen am Arm. „Mir war sofort klar, dass es sich um einen Dialysepatienten handelte. Der Mann hatte schrecklichen Durst, durfte aber nichts trinken, weil er wusste, dass er das Wasser über seine geschädigten Nieren nicht würde ausscheiden können.“ Desaga bat den Kapitän, die italienische Küstenwache zu alarmieren. Ein Schnellboot brachte den Patienten in eine Krankenstation auf die Insel Lampedusa. „Die Gefahr war groß, dass er den nächsten Tag nicht überlebt hätte“, sagt Desaga.
Insgesamt rettete er mit seiner Crew in der zweiwöchigen Mission 267 Flüchtlinge. In einer Nacht war die „Seefuchs“ mit 150 Flüchtlingen völlig überfüllt, die Männer und Frauen wickelten sich zum Schutz vor der Kälte mit Stannioldecken ein. „Auch für sie hatten wir nur eine Toilette. Das ist nicht viel, wenn viele seekrank werden“, sagt Desaga. Denn die „Seefuchs“ wie ihr Schwesterschiff „Sea-Eye“ ist nur zur kurzfristigen Rettung ausgerüstet, dann sollen die Flüchtlinge so schnell wie möglich an große Schiffe von Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ übergeben werden.
Und doch waren die Bilder des Elends auf dem Mittelmeer nicht das Schlimmste, was Desaga bei seinen Einsätzen gesehen hat. „Die größte Katastrophe war der Einsturz der Nähfabrik in Sabhar im April 2013“, sagt Desaga. Der Arzt war zufällig genau zu diesem Zeitpunkt in Bangladesch im Einsatz, als das Gebäude mehr als 3000 Textilarbeiterinnen unter sich begrub – 1135 Menschen wurden getötet und 2438 verletzt. Desaga half mit, die Schwerstverletzten aus den Trümmern zu bergen, kümmerte sich dann mit der Hilfsorganisation Meena um Opfer auf der Krankenstation in der Hauptstadt Dhaka: „Da lagen 80 Patienten mit Querschnittslähmungen und Amputationen in einem Saal ohne Toilette und Dusche, betreut von ihren Angehörigen.“
Im Internet wird gegen die Helfer gehetzt: „Rattenfresse“
Was treibt einen wie ihn an? „Ich finde es wichtig, sich für Menschen zu engagieren, die nicht wie wir auf der Sonnenseite leben“, sagt Desaga, aufgewachsen an der Großen Bergstraße in der Nähe von Darmstadt. Und er habe jetzt in seiner Privatpraxis das große Glück, dass er sich seine Zeit frei einteilen könne. Seine Patienten hätten durchweg großes Verständnis gehabt: „Ich habe bei den Gesprächen gemerkt, wie viele sich für Flüchtlinge engagieren, etwa Lehrer, die ehrenamtlich Deutschunterricht geben.“ Keine Selbstverständlichkeit, denn andere Crewmitglieder wurden wie der Berliner Grünen-Politiker Erik Marquardt in sozialen Netzwerken als „Inzuchtkröte“ oder „Rattenfresse“ beschimpft. Einer schrieb: „Ich wünsche Dir einen Orkan mit Windstärke 12 und keine Rettungsweste.“
Auch Desaga kennt die Argumentation, dass es sich bei den geretteten Schwarzafrikanern vornehmlich um Wirtschaftsflüchtlinge handele, ohne Anspruch auf politisches Asyl. Er hält sie für zynisch: „Auch wir würden uns auf den Weg zu einem anderen Kontinent machen, wenn wir nicht mehr wüssten, wie wir unsere Kinder ernähren sollen.“ Die Menschen hätten schon auf dem Weg nach Libyen unfassbare Strapazen erlebt: „Glauben Sie ernsthaft, das macht jemand aus Abenteuerlust?“
Desaga weiß, dass die Flüchtlinge nach der Rettung vor einer ungewissen Zukunft stehen, viele müssten wahrscheinlich nach der Ablehnung ihrer Asylanträge zurück. Dennoch würde er sich immer wieder an solchen Missionen beteiligen: „Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Tausende im Mittelmeer ertrinken.“