Hamburg . Matthias Boxberger beklagt Koordination der Baustellen und sieht Konflikt mit Wohnungsbau. Was Nachbarschaftszonen bringen.

Matthias Boxberger ist Chef des Energieversorgers Hansewerk (früher: E.on Hanse) in Quickborn. Zu wirtschaftspolitischen Themen hat sich der studierte Wirtschaftsingenieur, der verheiratet ist und sechs Kinder hat, bisher kaum zu Wort gemeldet. Doch das ändert sich nun. Weil Boxberger kürzlich zum Vorsitzenden des Industrieverbands Hamburg gewählt worden ist. Der 51-Jährige spricht nun für jeden siebten Arbeitsplatz in Hamburg. In seinem ersten Interview greift er die Verkehrspolitik des Senats an, kritisiert Auswüchse des Wohnungsbaus und ermahnt die neue Führung der Handelskammer.

Wie mächtig ist eigentlich der Industrieverbandschef in der Dienstleistungsstadt Hamburg?

Matthias Boxberger: Die Industrie ist in Hamburg eine tragende Säule. Sie stellt jeden siebten Arbeitsplatz, ist großer Steuerzahler und Wachstumstreiber in der ganzen Region. Daraus ergibt sich die Antwort auf Ihre Frage.

Inwiefern?

Boxberger: Die besondere Stellung der Industrie war für mich Ansporn, mich im Verband zu engagieren. Denn nicht nur im Sport gilt: In dem Moment, wo wir aufhören, besser werden zu wollen, werden wir schlechter. Wir sind im Flugzeugbau der drittgrößte Standort weltweit. Unsere Grundstoffindustrie ist ein Leuchtturm in Deutschland. Hamburg ist einer der Treiber beim digitalen Wandel der Industrie. Und die Einschätzungen des Geschäftsverlaufs der Unternehmen sind laut Umfragen so gut wie nie. Dennoch sehen die gleichen Unternehmen eine Reihe von Problemen, denen wir uns widmen.

Welche Probleme meinen Sie genau?

Boxberger: Da sind die vielen Staus auf den Straßen, der Fachkräftemangel und auch ein Defizit an Dienstleistern. Das sind keine kurzfristigen Probleme. Wenn ich daran denke, dass jeder siebte Arbeitnehmer in Hamburg 55 Jahre oder älter ist, stehen wir mittelfristig vor großen Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen.

Bleiben wir beim Verkehr. Was ist Ihr Hauptkritikpunkt?

Boxberger: Fangen wir positiv an. Dass überhaupt gebaut wird, ist wichtig. Es zeigt, dass die Politik endlich die Wende nach der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Infrastruktur eingeleitet hat. Und wenn ich den Ausbau der A 7 nördlich des Elbtunnels betrachte, habe ich den Eindruck, dass hier gut gearbeitet wurde. Anders sieht es südlich des Elbtunnels und im Stadtgebiet aus. Mit den täglichen Staus, die wir dort erleben, können wir nicht zufrieden sein. Hamburg ist eigentlich eine Verkehrsdrehscheibe, die aber im Moment stehen zu bleiben droht. Der Senat hat im Koalitionsvertrag festgelegt, sich zu Hamburg als „Stadt der Mobilität“ zu bekennen. Angesichts der Staulage ist es notwendig, ihn daran zu erinnern.

Was fordern Sie konkret?

Boxberger: Jede einzelne Baumaßnahme in Hamburg ist für sich sicherlich begründet. Die Summenwirkung ist aber das Pro­blem. Wir brauchen dringend eine Entzerrung der Baumaßnahmen und eine wirksame Baustellenkoordination. Darauf drängen wir.

Ein Zukunftsprojekt ist der Ersatz für die Köhlbrandbrücke. Sind Sie für eine neue Brücke oder für einen Tunnel?

Boxberger: Uns ist nur wichtig, dass es eine leistungsfähige neue Köhlbrandquerung gibt. Uns ist es egal, ob es eine Brücke oder einen Tunnel gibt. Entscheidend ist aus unserer Sicht, dass die Lösung von allen wichtigen Stellen akzeptiert und rechtzeitig realisiert wird.

Ein weiteres wichtiges Infrastrukturprojekt ist die Elbvertiefung, die immer wieder durch neue Einwendungen verzögert wird. Können Sie die jahrelange Auseinandersetzung darüber noch nachvollziehen?

Boxberger: Nein. Ich habe selbst beim Bau von Stromleitungen eine Reihe großer Planungsvorhaben auf den Weg gebracht. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich bei einer offenen und intensiven Diskussion 95 Prozent der Menschen von der Notwendigkeit einer Maßnahme überzeugen lassen. Problematisch sind die restlichen fünf Prozent. Bei denen frage ich mich manchmal, ob es sachfremde Überlegungen sind, die diese Leute dazu verleiten, die Vorhaben zu verzögern. Der Rechtsstaat stößt hier an seine Grenzen.

Eine Änderung des Verbandsklagerechts könnte vielleicht helfen ...

Boxberger: Wir drängen auf eine Reform. Deshalb steht im Koalitionsvertrag der Bundesregierung – auch auf Betreiben des IVH –, dass das Verbandsklagerecht in seiner Reichweite überprüft werden soll. Das ist ein Erfolg. Ich bin aber wenig optimistisch, dass die Politik die Kraft zu einer baldigen Änderung hat. In jedem Fall ist es wichtig, dass Planer und Umweltverbände im Gespräch bleiben.

Die Industrie in der Stadt hat früher häufig eine zu große Bürokratie kritisiert. Ist das immer noch so?

Boxberger: Wir reden hier meistens nicht über die Errichtung völlig neuer Industriekomplexe, sondern über Alltagsdinge. Wenn ein Betrieb seinen alten Kessel austauschen will, benötigt er eine neue Genehmigung. Und wenn in der Zwischenzeit neben dem Betrieb ein Kindergarten oder ein Wohngebäude erricht wurde, muss eine völlig neue Untersuchung zur Einhaltung des Emissionsschutzes durchgeführt werden. Wir reden also oft von umfangreichen Darlegungen, die unsere Betriebe vor Ersatzinvestitionen leisten müssen. Da müssen zum Teil Vegetationsperioden abgewartet werden. Erklären Sie einmal einem Geschäftspartner, dass er Jahre warten muss, bis bestimmte Umweltanforderungen kartiert und ausgewertet worden sind.

Will Hamburg gesetzliche Vorgaben übererfüllen?

Boxberger: Die Genehmigungs- und Abwägungspraxis ist hier sehr umfänglich. Ich habe als Manager das Vorgehen in Bayern, Thüringen und Hessen kennengelernt. Diese Bundesländer sind vielfach schneller. Ein zweites Problem ist das Aufeinanderzuwachsen von Wohnen und Industrie. Damit kommen Wohnungsbau und Industrieentwicklung vermehrt in Konflikt.

Sorgen Sie sich um freie Industrieflächen?

Boxberger: Das ist das eine. Das andere ist, dass die Wohnbebauung auf Industriebetriebe zuwächst, die zum Teil schon seit Jahrzehnten dort sind. Es geht also auch um den Bestandschutz von Industrieflächen. Denn diese gehen über das Betriebsgelände hinaus, wenn es um Emissionsschutzbestimmungen geht. Das betrifft beispielsweise auch Helligkeit oder Lärm. Wir haben aktuell Fälle im Süden Hamburgs, wo in Emissionsarealen angestammter Betriebe Wohnungen gebaut werden sollen. Wir benötigen also Nachbarschaftszonen, auf die sich die Unternehmen mit dem Wohnungsbau verständigen. Wir sind mit den Behörden im Gespräch, damit sich keine Planung verfestigt, die unsere Betriebe gefährdet.

Ihr Vorgänger Michael Westhagemann hat sich sehr kritisch über die Vorgänge in der Handelskammer geäußert. Wie stehen Sie zur neuen Kammerführung?

Boxberger: Mein stärkster Eindruck stammt aus der letzten Legislaturperiode. Schon damals war der raue Ton spürbar, mit dem die Gruppierung – einer vermeintlich höheren Moral folgend – Spielregeln einseitig änderte, auf die sich die Hamburger Kaufmannschaft über Jahrzehnte aus gutem Grund verständigt hatte. Das Zweite ist, dass die engagierten und hervorragenden Mitarbeiter der Handelskammer verunsichert wurden, weil die neue Führung es nicht verstanden hat, ihre Kritik an der Kammer von den Mitarbeitern fernzuhalten. Und zum Dritten sehe ich mit Sorge, dass die Kammer inzwischen keine Repräsentantin mehr dessen ist, was den gesamten Wirtschaftsstandort Hamburg ausmacht. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Industrie.

Was folgern Sie daraus?

Boxberger: Die Stimme der Hamburger Industrie ist der Industrieverband. Es gab eine Reihe von Themen, die wir in der Vergangenheit gemeinsam mit der Kammer vorangetrieben haben. Derzeit müssen wir vieles alleine machen.

Wenn das Kammerplenum derzeit nicht mehr die Industrie vertritt, fordern Sie eine Änderung der Wahlordnung?

Boxberger: Ja, wir brauchen einen Zuschnitt der Wahlgruppen, der die tatsächliche Wirtschaftsleistung in Hamburg angemessen abbildet.