Berlin. Am 26. Mai spielt der italienische Klavier-Weltstar Maurizio Pollini in Hamburg – eine Begegnung mit dem Künstler.

Zur verabredeten Zeit ist der Meister nicht da. Man gebe ihm Bescheid, teilt die Hotelrezeption mit. Nicht irgendeine. Dies ist das Kempinski am Kurfürstendamm, gediegenes, gutes altes Westberlin. Nur dort steigt der Maestro ab, wenn er in der Stadt weilt. Knöchelhoch der Teppichflor, der Granitfußboden spiegelt, die Lobby liegt mittäglich träge da. Der Pressesprecher seufzt unhörbar.

Keine Spur von Maurizio Pollini, 76 Jahre alt und einer der Großen unter den Pianisten des 20. Jahrhunderts. Nachfrage an der Rezeption ergibt, man schicke jemanden aufs Zimmer. Der Maestro komme gleich. Nach einer weiteren Viertelstunde: Er sei nicht auf dem Zimmer. Noch etwas später: Man habe ihn gefunden, er sitze gerade beim Nachtisch. Der Pressesprecher setzt ein Pokerface auf.

Sein Ruhm begann über Nacht

So ist das nun einmal mit Weltstars. Maurizio Pollinis Ruhm begann gleichsam über Nacht. Mit gerade 18 Jahren gewann er den renommierten Chopin-Wettbewerb in Warschau. Seither ist Chopin der Fixstern in Pollinis handverlesenem Repertoire. Im vergangenen Oktober, als die Welt der Preise noch in Ordnung war, hat er für seine Einspielung später Chopin-Werke einen Echo Klassik bekommen. Auch für das Programm seines Klavierabends beim Internationalen Musikfest Hamburg am 26. Mai verbindet er Werke von Schumann und Chopin.

Schließlich erscheint Maestro Pollini zur Erleichterung seines Pressesprechers doch noch. Wer allerdings einen königlichen Auftritt erwartet hat, mit Sänfte, Geleit und Trommelwirbel, der sei belehrt: Wahre Größe kommt von innen. Die Lobby betritt ein milde gestimmter älterer Herr in Anzug und seidener Krawatte. Der Nachtisch kann nicht schwer gewesen sein; Pollini zeigt keine Spur von Mittagsmüdigkeit, geschweige denn des leisesten Bedauerns über die Verspätung. Hey, der Mann ist Italiener! Mailänder, um genau zu sein.

„Chopin macht die Leute glücklich“

„Chopin macht die Leute glücklich“, sagt er in seinem schleppenden, stark italienisch gefärbten Englisch, als er in einem Nebengelass in einem kantigen Lederfauteuil versunken ist. „Alle lieben das Lyrische an seiner Musik. Aber der dramatische Anteil von Chopins Musik wird viel weniger beachtet. Dabei ist er genauso wichtig. Chopins harmonischer Mut ist fantastisch. Er schreibt sehr komplex. Seine Harmonik ist seiner Zeit weit voraus.“

Zart ist Pollini geworden. Im Gespräch braucht er einen Moment, um die Fragen zu erfassen, aber dann antwortet er in geschliffenen Formulierungen. „Ich mag die Flexibilität des Klaviers sehr. Es hat eine gewisse Neutra­lität. Manche halten es für ein Schlag- instrument, andere für ein singendes Instrument. Durch diese Fähigkeit zur Transformation ist es das ideale Instrument sogar für Bach und Chopin, zu deren Lebenszeit das Klavier noch nicht so weit entwickelt war wie heute.“

Konversation mit einer Auster

Pollini ein persönliches Wort entlocken zu wollen, ist ungefähr so erfolgversprechend, als versuchte man, Konversation mit einer Auster zu machen. Doch hinter seinen bedächtigen Sätzen scheint die ganze Tradition des Klavierspiels auf, werden die Großen des 20. Jahrhunderts lebendig. Die Pianisten Rubinstein und Benedetti Michelangeli prägten Pollini, er hat Backhaus und Gieseking erlebt. Sie sind lange tot, vor vier Jahren starb sein künstlerischer Weggefährte, der Dirigent Claudio Abbado.

Nur eine Chopin-Nocturne währte sein Auftritt im Oktober bei der Echo-Gala in der Elbphilharmonie, doch schien sich in den paar Minuten ein ganzes Künstlerleben abzubilden. Die Klarheit und Pathosfreiheit seines Spiels, sein Gestaltungswillen, das alles war noch da, aber wie hinter einem Schleier: Nicht alle Perlen reihten sich ebenmäßig zu Trillerketten und Läufen, und im Ausdruck wirkte der Mann so verschlossen, als gäbe es nichts und niemanden außerhalb des Lichtkegels.

Früher war mehr Furor

Früher war mehr Furor. Pollini hat auch mit Bartók und Prokofjew Triumphe gefeiert. Seine Beziehungen mit italienischen Neutönern wie Bruno Maderna, Luigi Nono oder Salvatore Sciarrino gingen über das Künstlerische weit hinaus. Inspiriert von Nono, hat sich Pollini in den wilden 1970er-Jahren, als Italien vom Rechtsterrorismus erschüttert wurde, früh für das eingesetzt, was man heute Musikvermittlung nennt: „Musik ist für alle da“, lautete sein Credo.

Politisch nach eigenem Bekunden bis dahin eher neutral eingestellt, schloss er sich der Kommunistischen Partei an und gab Konzerte für Studenten. Er und seine Gefährten verbanden in den Programmen Beethoven mit Stockhausen – und mussten nach einiger Zeit einsehen, dass die große Resonanz ausblieb. „Wir hatten gehofft, unsere Initiative würde im italienischen Musikleben Spuren hinterlassen, aber das war nicht der Fall. Das war eine Enttäuschung“, resümiert er. „Musik und Politik sind zweierlei Dinge.“

Der Maestro ist müde geworden

Auf die Frage, was Musiker heute noch politisch ausrichten könnten, antwortet er ausweichend. „Schauen Sie sich den Umweltschutz an. Es ist vollkommen irrsinnig, dass niemand darüber nachdenkt. Eigentlich müsste sich doch jeder dieser ungeheuren Herausforderungen annehmen. Sie kommen ja in jedem Fall auf uns zu, ob wir uns ihnen stellen wollen oder nicht.“ Seine Stimme ist noch etwas rauer geworden. „Ich mag gar nicht davon sprechen“, murmelt er. Der Maestro ist müde geworden. Die Audienz ist vorbei. Der Pressesprecher nimmt Pollini in Empfang, und die beiden gehen durch die Lobby davon – der zierliche ältere Herr mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er bei sich zu Hause.

Der Klavierabend mit Maurizio Pollini am 26.5. in der Elbphilharmonie ist ausverkauft