Hamburg. Esemrei S. schoss im vergangenen Herbst mehrmals auf einen anderen Mann. Es gibt ein Video von der Tat.

Was sich am Morgen des 22. Oktober 2017 hinter dem Dammtor-Bahnhof abgespielt hat, könnte aus einem Tarantino-Film stammen. Eine Szene roher Gewalt, nur ohne Blut. Ein junger, bärtiger Mann im hellen Hemd läuft strammen Schrittes mit einer Pistole über den Dag-Hammarskjöld-Platz, dabei feuert er Schüsse ab, siebenmal knallt es. Kurz darauf ist zu sehen, wie der Schütze in Richtung des Bahnhofs geht und hektisch mit der Waffe herumfuchtelt. Irgendjemand brüllt: „Du Hurensohn.“

Zu sehen ist die Schießerei vom Oktober in einem Video, das im Internet leicht zu finden ist. Ein Zeuge hatte es mit dem Handy aufgenommen. Der mutmaßliche Schütze – Hemd, blaue Jacke, zurückgegelte Haare – steht seit Donnerstag wegen versuchten Totschlags vor dem Landgericht. Ihm gegenüber sitzt das Opfer, der Nebenkläger Kadri A. (25). Um seine Nerven zu beruhigen, lässt er die ganze Zeit eine Misbaha, eine islamische Gebetskette, durch seine Finger gleiten.

Täter und Opfer sollen gestritten haben

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Deutsch-Afghanen Esemrei S. (27) vor, gegen 5.50 Uhr mit einer Waffe sechs gezielte Schüsse auf Kadri A. abgegeben zu haben – teils aus nächster Nähe. Zuvor sollen der Täter, das Opfer und weitere Männer miteinander in Streit geraten sein und sich geprügelt haben. Die Pistole soll Esemrei S. von einem bisher unbekannten Mann bekommen haben. Die Kugeln verfehlten jedoch allesamt ihr Ziel, offenbar weil Kadri A. auf der Flucht vor seinem Verfolger Haken schlug, sich zu Boden warf und sich schließlich in den Bahnhof retten konnte. Esemrei S. habe nur deshalb keine weiteren Schüsse auf Kadri A. abgeben können, weil sich dort bereits viele Zeugen befanden, so die Staatsanwaltschaft. Stattdessen habe der Angeklagte mit der Pistole auf ein Auto eingedroschen – und so einen Schaden von 6500 Euro verursacht.

Zwar war der Tatort, immerhin einer der belebtesten Plätze Hamburgs, schon mehrfach Schauplatz ausufernder Gewalt – offenbar gingen den Exzessen häufig Besuche in der nahe gelegenen Diskothek The Room voran. So wurden bei einer Messerstecherei im Juni 2017 vier Menschen verletzt, kurz vor Weihnachten schlugen sich mehr als 20 Männer grün und blau. Ein 23-Jähriger kam mit einer schweren Stichverletzung ins Krankenhaus. Doch eine Schießerei wie diese, eine wüste Herumballerei in Wildwestmanier – die gab es so noch nicht. Die Frage ist nur: warum?

"Jetzt knall' ich dich ab, du Hurensohn"

Während der 27-Jährige am Donnerstag zu den Vorwürfen schweigt, äußert sich Kadri A. zum Geschehen am 22. Oktober, an viele Details kann der Zeuge sich nicht mehr erinnern. Auch fehlt ihm jede Idee für das Motiv. Er sei von wildfremden Menschen in jener Nacht urplötzlich angegriffen worden, sagt Kadri A. „Ich habe doch niemandem etwas getan.“ Zuvor habe er mit Freunden und zwei Frauen im The Room gefeiert. Nachdem er die Frauen in ein Taxi gesetzt habe, seien die Männer aufgekreuzt. Erst zwei, dann noch zwei, darunter der Angeklagte. Er habe sich gewehrt und zurückgeschlagen, einer der Angreifer sei gestürzt.

Mit den Worten „jetzt knall' ich dich ab, du Hurensohn“ sei der Angeklagte zu einem Auto gelaufen. Als er mit einer Waffe in der Hand in seine Richtung marschiert sei, sei er weggerannt. Immer wieder habe der Schütze auf ihn gezielt und abgedrückt. Mindestens drei Kugeln seien so haarscharf an ihm vorbeigezischt, dass er einen Luftzug verspürt habe. Eine sei in einen Pfeiler unmittelbar neben ihm eingeschlagen. Er selbst habe sieben Schüsse gezählt. „Der hat sein komplettes Magazin leer geschossen“, sagt Kadri A. Als er in Richtung Bahnhof flüchtete, habe ihm Esemrei S. noch zugerufen: „Lass uns eins gegen eins kämpfen.“ Schließlich sei der Schütze geflüchtet.

Opfer erhielt nach der Tat Drohanrufe

Ruhe war dem geschockten Opfer auch nach der Tat nicht vergönnt. Er habe täglich Drohanrufe erhalten, Tenor: Er solle bloß nichts sagen. Deshalb sei er ins Ausland geflüchtet. Auch der Bekannte, dessen Auto beschädigt worden war, sei unter Druck gesetzt worden. Erst nachdem ein Spezialkommando der Polizei Esemrei S. an der Stader Straße (Harburg) verhaftete, habe er sich Ende November wieder nach Hamburg zurückgetraut, sagt Kadri A.

Warum die für Organisierte Kriminalität zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft in dem Fall die Ermittlungen führte, wird das Gericht noch aufklären müssen. Für die Polizei und die Justiz ist Esemrei S. indes kein Unbekannter. Sein Vorstrafenregister umfasst fast 20 Einträge, viele Verurteilungen hat er im Jugendalter kassiert, unter anderem wegen räuberischer Erpressung und Zuhälterei.