Hamburg. Zum 21. Mal kommentiert der NDR-Moderator das Finale des ESC im TV. Gespräch über Guildo Horn und Johann Sebastian Bach.

Nur einmal hat Peter Urban (70) den Eurovision Song Contest (ESC) seit 1997 verpasst. Das war 2009, als er sich einer Hüftoperation unterziehen musste. Am heutigen Sonnabend (ARD, 21 Uhr) kommentiert das NDR-Urgestein den ESC zum 21. Mal.

Vor 21 Jahren war der ESC, der damals noch Grand Prix hieß, ein hierzulande eher belächeltes Gesangsfestival, heute ist der ESC eine globale TV-Show mit 150 Millionen Zuschauern, die auch in China, USA und Australien übertragen wird. Wie konnte es so weit kommen?

Peter Urban: Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des alten Jugoslawiens kamen viele neue Mitgliedsländer dazu, heute sind es 43. Es entstand ein viel größeres Publikum. Außerdem hat sich der ESC an die moderne Pop-Zeit angepasst, hat neue Verbreitungswege wie Online, YouTube und die sozialen Netzwerke clever genutzt, um seine Stellung als größtes TV-Musik-Ereignis der Welt auszubauen.

Was bedeutet diese Entwicklung für Ihre Arbeit?

Urban: Der Aufwand ist gewaltig. Zu meinem ersten Grand Prix-Finale im Mai 1997 bin ich noch zusammen mit einem Redakteur nach Dublin gefahren. Heute besteht allein das Team des NDR aus 30 Mitarbeitern. Und aus Deutschland sind noch mal rund 120 Journalisten vor Ort.

Was hat sich für die Künstler geändert?

Urban: Auch sie genießen mittlerweile eine enorme Aufmerksamkeit auf sämtlichen Kanälen. Nehmen wir allein die kleinen Einspielfilmchen, mit denen seit einigen Jahren die einzelnen Künstler vor den Songs vorgestellt werden. Dafür ist der deutsche Sänger Michael Schulte jetzt extra nach Madeira geflogen. Vier Tage Dreharbeiten auf der Insel mit Gleitschirmfliegen für einen 30 Sekunden langen Film. Das ist schon ein riesiger Aufwand. Das machen die Länder, in denen das Finale stattfindet, natürlich auch, um für sich selbst zu werben.

In Deutschland war der Grand Prix lange verpönt. Wann wurde der ESC zu einer Kult-Veranstaltung?

Urban: Ich denke, der Wandel passierte mit Guildo Horn. Das war im Jahr 1998. Da berichteten plötzlich auch seriöse Medien über diesen langhaarigen, zotteligen Musiker, der für Deutschland an den Start ging. Das war der Wendepunkt.

Und die musikalische Qualität?

Urban: Auch die hat sich seitdem verbessert. War der Wettbewerb bis dahin noch sehr schlagerbehaftet, dominiert heute internationale Popmusik. Das ist inzwischen allgemeiner Standard. Und die kann man überall produzieren.

Deshalb klingen die Songs aber auch sehr ähnlich.

Urban: Das stimmt. Denn auch in Serbien oder Armenien kann internationale Popmusik produziert werden. Und dafür lässt man dann eben schwedische oder amerikanische Produzenten-Teams einfliegen.

Macht das den Song Contest nicht ziemlich langweilig?

Urban: Wenn es um skurrile Dinge geht, ja. Davon gab es früher eindeutig mehr.

Zum Beispiel?

Urban: Das gab es Mädchengruppen, die kaum singen konnten. Oder Sänger, die in den absurdesten Kostümen aufgetreten sind.

Die haben von Ihnen dann auch schon mal ein paar bissige Kommentare bekommen. Sie haben Sängerinnen als „Unterwäschemodells“ bezeichnet und von Künstlern in einem „Pyjama aus Rettungsfolie“ gesprochen.

Urban: Diese Auftritte hatten zumindest für den Moderator den Vorteil, dass man sehr lustige Sachen sagen konnte. Heute ist dafür der allgemeine musikalische Standard höher. Aber klar, die nationalen Eigenheiten sind nicht mehr so deutlich erkennbar – und es ist auch nicht mehr so lustig wie vor 20 Jahren.

Zehn der 26 Finalisten, darunter Dänemark, Schweden und die Ukraine haben sich erst am Donnerstagabend in Lissabon fürs Finale am Sonnabend qualifiziert
Zehn der 26 Finalisten, darunter Dänemark, Schweden und die Ukraine haben sich erst am Donnerstagabend in Lissabon fürs Finale am Sonnabend qualifiziert © Reuters | REUTERS

Der internationale Mainstream ist aber nicht immer ein Erfolgsrezept.

Urban: Richtig. Im letzten Jahr hat der Portugiese Salvador Sobral mit einem zarten jazz- und bossanova-artigen Song gewonnen, komplett untypisch für den Song Contest. Das Emotionale und Authentische hat ihm den Sieg gebracht, und das fand ich großartig. Das ist auch eher die Art von Musik, die ich liebe. Deshalb habe ich mich sehr über seinen Sieg gefreut.

Viele kritisieren trotzdem, dass beim ESC die Musik nur noch Nebensache ist und es größtenteils um grandiose Effekte bei der Präsentation des Songs geht.

Urban: Das stimmt nur teilweise. Natürlich gibt es großartige Effekte wie etwa die filmischen Strichmännchen des Schweden Mans Zelmerlöw 2015, die seinem Titel mehr Aufmerksamkeit verschafft haben. Oder die lettische Sängerin Marie N, die ihre Garderobe während des Liedes zweimal wechselte, was ihr 2002 mit einem eher langweiligen Song vielleicht zum Sieg verholfen hat. Das sind aber Einzelfälle. Ich behaupte, technische Tricks alleine reichen nicht aus. Am Ende muss ein Siegersong auch so stark sein, dass er Gefühle oder Emotionen bei sehr vielen Leuten in Europa auslöst. Zwei Jahre zuvor etwa gewannen die Olsen Brothers aus Dänemark mit einem eingängigen und hübschen Song. Und die standen auf der Bühne wie zwei Realschullehrer mit Gitarren. Manchmal aber stimmt auch beides. Wie bei Loreen aus Schweden, die 2012 mit einem Top-Dance-Song und einer großartigen Performance völlig zu Recht gewonnen hat.

Wie ärgerlich ist es, dass sich die Nachbarländer immer die meisten Punkte geben?

Urban: Das Problem ist dadurch etwas gemildert worden, dass es jetzt zwei Halbfinals gibt, in denen manche von diesen Ländern sich dann nicht fürs Finale qualifizieren können. Aber Griechenland und Zypern, die Balkanländer oder die Skandinavier wird man nicht trennen können. Richtig ist aber auch, dass diese befreundeten Stimmen nur eine Rolle für die Plätze von fünf bis 15 spielen. Um zu gewinnen, brauchst du nämlich viele Stimmen von allen.

Wie wichtig ist der europäische Song Contest für die Entwicklung von Popmusik?

Urban: Ich glaube, dafür war er nie wichtig. Der ESC war immer nur ein Spiegel von dem, was in der Popmusik in Europa stattgefunden hat.

Aber der Wettbewerb hat Gruppen wie Abba hervorgebracht ...

Urban: ... die hätten auch ohne den ESC eine Weltkarriere hingelegt ...

... oder zehn Jahre zuvor France Gall ...

Urban: ... die aber bereits 1963 in Frankreich ein Star war. Da hingen überall im Lande die Plakatwände voll mit ihr. Und ihr Grand-Prix-Titel von 1965 ist von Serge Gainsbourg. Einen besseren Songschreiber hat es in Frankreich nicht gegeben, insofern war die Kombination ideal. Ihr Song „Poupée de cire, poupée de son“ ist immer noch einer meiner Lieblings-Grand-Prix-Titel aus der gesamten ESC-Geschichte.

Der Wettbewerb hat also kaum neue Musik-Trends kreiert?

Urban: Richtig. Aber er hat sich musikalisch gewandelt. Es fing an mit Chansons, dann kamen Poptitel dazu, zuletzt auch R&B-Musik oder Rap-Künstler. Und natürlich immer und zu jeder Zeit wunderschöne Balladen.

Gibt es für Sie die drei oder fünf Lieblingstitel oder vielleicht den schönsten ESC-Song aller Zeiten?

Urban: Das sind einige Titel, die nicht gewonnen haben. Zum Beispiel vor vier Jahren in Kopenhagen „Calm after the Storm“ von The Common Linnets aus den Niederlanden, ein ganz wunderbarer Song. Oder „City Lights“ von Blanche aus Belgien im letzten Jahr. Oder, auch aus Belgien, Tom Dice mit „Me and my guitar“, das war 2010, als Lena für Deutschland gewonnen hat.

Gibt es so etwas wie den idealen Popsong?

Urban: Tausende. Aber alle müssen eine Bedingung erfüllen: Sie müssen direkt ins Herz gehen. Entweder durch die Melodie, durch die besondere Atmosphäre oder auch durch den Rhythmus. Da gibt es so viele tolle Songs, von den Beatles oder Elton John, von James Taylor oder Aretha Franklin. Oder auch Lieder von jüngeren Künstlern wie Laura Marling, eine wunderbare britische Folk-Pop-Sängerin mit fantastischen Songs. Wichtig ist auch immer die Überraschung in den Liedern, das macht den Zauber aus. Versuch mal, Beatles-Songs nachzuspielen. Da fragst du dich sehr schnell: Hey, was haben die dann da gemacht? Kleine Dinge in der Melodie, in den Akkorden oder im Rhythmus, die man als Hörer gar nicht sofort mitbekommt.

Machen Sie einen Unterschied zwischen moderner und klassischer Musik?

Urban: Ich muss leider sagen, dass ich erst mit zunehmendem Alter die Klassik entdeckt habe. Und mir jetzt oft wünsche, ich hätte Komponisten wie Beethoven, Schumann oder Schubert viel früher kennengelernt.

Warum?

Urban: Weil ich musikalische Sachen entdecke, die extrem modern klingen – wie etwa Johann Sebastian Bach ...

... den ja viele für den größten Musiker aller Zeiten halten. „Bach ist der Vater, wir sind die Buben“, hat Mozart gesagt. Und von Beethoven ist der Satz überliefert: „Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen“.

Urban: Ich habe auf der Trauerfeier für Roger Willemsen die grandiose Geigerin Isabelle Faust gehört mit einer Bach-Sonate, und ich habe nicht geglaubt, was ich gehört habe. Diese Kontrapunkt-Kompositionen, bei denen man gar nicht sagen kann, welche Stimme nun die Melodie singt und welche die Begleitung.

Ist Musik die Sprache, die alle verbindet?

Urban: Die Kraft der Musik ist unendlich. Sie ist mein Lebenselixier. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie es Menschen geht, die nicht musikalisch sind. Denn eigentlich muss doch jeder Mensch musikalisch sein, auch wenn er vielleicht nicht die Töne trifft oder den Takt richtig mitklopfen kann. Aber jeder empfindet doch irgendetwas, wenn er Musik hört.

Das Singen ist in Deutschland aber nicht gerade weit verbreitet.

Urban: In Deutschland wird leider viel zu wenig gesungen. Das sind die üblen Nachwehen der Nazizeit, die dazu geführt haben, dass in Deutschland in den 50er-und 60er-Jahren kaum noch gesungen wurde. Und Volkslieder, die ja zum Teil wirklich sehr schön sind, hier lange verpönt waren. Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen Folksongs völlig normal sind. Ich glaube aber, dass das, Gott sei Dank, langsam etwas besser wird. An den Schulen gibt es wieder mehr Chöre als früher. Trotzdem finde ich, dass der Gesang bei vielen deutschen Pop-Aufnahmen immer noch ein Problem ist.

Welches ist das wichtigste Instrument in der Popmusik?

Urban: Schwierige Frage. Aber die Gitarre ist schon extrem wichtig. Sie kann eben viel mehr Emotionen ausdrücken als ein Klavier. Und darum geht es bei Musik. Manchmal funktioniert Musik ja auch nur über eine Stimme. Und die muss nicht mal wohlklingend sein, wenn ich etwa an Lou Reed denke. So suche ich auch in meiner wöchentlichen Sendung auf NDR 2 donnerstagabends immer Lieder aus. Sie müssen mir emotional etwas geben. Da bin ich in der Auswahl zum Glück völlig frei und muss mich nicht an Formate halten. Das ist wohl der Vorteil des Veteranen (lacht).

Dass er machen kann, was er will?

Urban: Dass er Schubladen aufbrechen kann. Das ist so wichtig. Ich kann nicht verstehen, wenn Menschen nur einen Stil präferieren und andere Musikrichtungen manchmal fast aggressiv ablehnen. Offen sein für Überraschungen, frei sein von Vorurteilen. Das ist wichtig.

Kritiker loben, „dass erst durch Urbans Ironie die ESC-Show zum Ereignis werde“. Andere schimpfen über Ihre allzu flapsigen Bemerkungen. Sind Sie mit den Jahren altersmilder oder zumindest vorsichtiger in der Moderation geworden?

Urban: Ich lese die bösen Sachen über mich im Internet nicht, das würde mich nur verunsichern. Man darf sich ja auch nicht nur von Einschaltquoten leiten lassen. Natürlich muss man bei der Moderation berücksichtigen, dass man mit jedem Satz sehr leicht nationale Befindlichkeiten verletzen kann. Das ist manchmal ein Drahtseilakt, aber ich würde nie einen Künstler persönlich beleidigen. Ich möchte informativ sein und unterhalten. Man sollte nicht zu vorsichtig werden, leichte Ironie ist okay. Wenn ich also finde, dass der Sänger aussieht wie Gerhard Delling, dann kann ich das auch sagen, weil das in dem Moment vielleicht auch viele Zuschauer denken. Aber im Gegensatz zu manchen britischen Kollegen, die gerne ihre Vorurteile pflegen, bin ich doch recht harmlos.

Freuen Sie sich, wenn Deutschland gut abschneidet?

Urban: Natürlich, das ist ja auch viel leichter zu kommentieren, als wenn man da in seiner Kabine sitzt und jedesmal sagen muss: Oh, wieder keine Punkte für Germany. Das ist keine angenehme Situation. Das ist wie beim HSV (lacht).

Ist denn, um im Bild zu bleiben, der deutsche Vertreter Michael Schulte vergleichbar mit HSV-Stürmer Jann-Fiete Arp?

Urban: Wenn Jann-Fiete mehr treffen würde, vielleicht. Michael Schulte ist eine sehr gute Wahl. Ein ehrlicher Künstler. Ich glaube ihm, was er singt. Da geht es nicht um die Show, sondern um den Song. Er ist sehr bodenständig, ein toller Typ. Das Bemerkenswerte ist, dass er das alles ohne Plattenfirma geschafft hat. Er hat seine Songs, die er alle selbst schreibt, bei sich im Studio aufgenommen und hat sie über YouTube mit bis zu 50 Millionen Zugriffen bekannt gemacht. Inzwischen hat er Fans in ganz Europa und auch in den USA. Er hat ohne Firma acht Alben veröffentlicht und vertreibt seine Platten über das Internet. Ein Musterbeispiel dafür, wie man heute ohne Plattenfirmen erfolgreich Musik machen kann.

Wäre es noch besser, wenn er deutsche Texte singen würde?

Urban: Ich bin dankbar für jeden Song, der in der Landessprache gesungen wird. Das gibt es ja auch immer noch beim ESC. Man kann auch mit Liedern in der Landessprache gewinnen, wie im vergangenen Jahr Salvador Sobral oder im Jahr 2007 die Serbin Marija Serifovic.

Ist die kleine Krise mit den deutschen Beiträgen nun zu Ende?

Urban: Ich denke, Michael Schulte hat gute Chancen. Aber, mal ehrlich: Der ESC ist zwar fernsehtechnisch inzwischen eines der größten Ereignisse weltweit. Ein grandioser Event mit einer gigantischen Show. Aber es ist immer noch eine Unterhaltungsshow, ein großer musikalischer Spaß – und nicht das Europaparlament.