Hamburg. Rund um die Balduintreppe auf St. Pauli versucht die Polizei, den Drogenhandel durch Schwarzafrikaner zu unterbinden.

Der kleine Junge läuft direkt zwischen die Fronten. Vorbei an der Gruppe von Schwarzafrikanern, an Stickern und beschmierten Mauern auf die erste Treppenstufe, die Sonne drückt. „Hallooo, Polizei!“, ruft er in die Stille, die nächste Sekunde ist sehr lang. Blicke schnellen nach oben. Dort stehen drei Beamte in leuchtend gelben Warnwesten; einer nickt leicht mit dem Kopf, es bleibt ruhig, noch.

Es ist ein herrlicher Tag an der Balduintreppe auf St. Pauli – und wieder einmal stehen sich mutmaßliche Drogendealer und Polizisten gegenüber; sie führen seit Jahrzehnten einen Kampf, der für keine Seite wirklich zu gewinnen ist. Zuletzt hat die Staatsmacht es mit ihrer vollen Härte versucht: Schwerpunkteinsätze, plötzlich einrückende Beamte, Platzverweise, Festnahmen, so weit das gelang – auch am Mittwoch wurden diverse Kleindealer festgenommen, der Schwerpunkt lag diesmal in St. Georg. Mehr als 75.000 Arbeitsstunden fielen für solche Aktionen allein zwischen Oktober und März an. Für die Polizeiführung geht es um mehr als die Gruppen von etwa 20 Männern und die eine Treppe auf St. Pauli.

Verfestigte Szene

„Vielen ist nicht klar, dass eine verfestigte Szene eine Sogwirkung hat“, sagt Polizeisprecher Timo Zill. Locker- zulassen an der Balduintreppe, das könne bedeuten: immer mehr Dealer, mehr Abhängige, mehr Verelendung, auch mögliche Gewalt. Das neueste Mittel dagegen sind nun sogenannte Präsenzstreifen, die Beamten in den Westen, annähernd 24 Stunden am Tag. Die Situation habe sich bereits „merklich verbessert“.

Doch die Dealer sind noch da, auch zwei Jahre nach Gründung einer sogenannten Taskforce. Und längst richtet sich der Unmut vieler Anwohner auch gegen die Polizei; es geht auch um Rassismus-Vorwürfe und die Hafenstraße als politisches Symbol. Vor den Stufen der Balduintreppe ist oft nicht mehr leicht zu überblicken, wer hier eigentlich wen belauert. Und die Frage steht im Raum, wo die Kraft des Staates ihre Grenze findet.

Im Viertel gibt es auch Sympathie

Am Fuß der Treppe haben die Männer ihr Freiluft-Fitnessstudio eingerichtet, es hat etwas vom „Muscle Beach“ in Venice Beach, Kalifornien. Sie tragen Kopfhörer im Ohr, rauchen abwechselnd, dann stemmen sie wieder Gewichte, ein Rudergerät surrt unter der Bewegung. Ein etwas dickerer Afrikaner scheint der Chef der Gruppe zu sein. Aus einer kleinen Box plärrt Reggae.

„Hello“, hauchen die Drogenhändler, wenn sie den Passanten Drogen anbieten, oder „wie geht’s?“ 50 Meter weiter steht vor einem Hauseingang der Hafenstraße eine weitere Gruppe, lehnt gegen einen Baum, es sind ebenfalls Schwarzafrikaner. Das dahinter liegende Wohnprojekt gilt als Rückzugsort und Unterstützerhort der Dealer, ein erzlinkes Milieu. Gegen die Polizei sichern sie sich mit strikter Arbeitsteilung ab: Ein Mann hält jeweils Ausschau, einer nimmt das Geld an, einer hat den Stoff. Auf dem Schild hinter ihrem Posten steht: „Bullen, Zivis und andere Arschlöcher müssen draußen bleiben.“

Anwohner genervt

Oben, am anderen Ende der Treppe, sitzen Anwohner in der Sonne; Kinder rennen über den kreidebemalten Gehweg, die Stadtteilschule ist immer in Sichtweite. Es ist ihr Viertel, aber sie sind doch meist nur Statisten in dem täglichen Schauspiel. „Es ist manchmal grausam, wie penetrant die sind. Sprechen offensiv an, laufen einem nach, stehen praktisch schon halb in den Klassenzimmern der Schule“, sagt eine Frau.

Die massive Präsenz der Polizei habe die Dealer zwar zerstoben, sodass sich die Gruppen weiter verteilen. Dafür stünden die Dealer nun auch an Ecken, die früher noch tabu schienen. „Mich stört die Polizei mehr als die armen Gestalten da unten“, sagt ein Mann, der gerade ein Fahrrad in einen Hauseingang schiebt. Die Dealer grüßten höflich, seien ungefährlich, auch wenn sich gerade Frauen vielleicht bedroht fühlten. Eine Frau auf einem Campingstuhl schüttelt da nur leise mit dem Kopf und will über das alles nicht mehr reden.

Afrikaner fühlen sich zu Unrecht stigmatisiert

„Es ist ja gut und richtig, dass die Polizei eingreift“, sagt ein Alteingesessener. „Sie müsste es nur auch durchhalten. Gerade am Wochenende ist hier am meisten los, natürlich, aber genau dann sind weniger Beamte vor Ort“. Dann gleiche der Bereich oben an der Treppe zuweilen einem „Drive-in für Drogen“. Die Fahrer halten an und bekommen ihre Drogen, setzen zurück und rauschen davon. „Es ist skurril, aber eben die traurige Realität.“

Man gehe jeder verdächtigen Aktivität nach, sagt einer der drei Beamten, die oben an der Treppe Wache halten. Auch wenn sie sich unterhalten, bleibt ihr Blick auf die Männer unten gerichtet. Es zeige Wirkung, hohe Präsenz zu zeigen, glaubt die Polizei. Und die Mehrheit des Viertels stehe hinter ihr, auch wenn es gerade auf St. Pauli einigen Anwohnern schwerfalle, offen Sympathie für sie zu bekunden.

Die Realität im Einsatz ist oft eine andere. Wenn Linke zu Protestaktionen kommen, nennen manche sich „Cop Watch“, Polizeiaufseher. Schilder mit aufgemalten Sprechblasen halten sie dann neben die Gesichter der Beamten in den Warnwesten. Auf denen steht: „Hier komme ich“ oder „Ich bekomme Geld dafür“. Die Polizisten werden so verspottet und vorgeführt.

Neulich an einem Sonnabend zieht eine Gruppe von etwa 500 Menschen durch das Viertel, sie tragen Transparente gegen „rassistische Kontrollen“. Die Polizei soll die Gegend um die Balduintreppe nicht länger als „gefährlichen Ort“ einstufen, den „Belagerungszustand“ im Viertel beenden. „Wir sind solidarisch mit jenen Menschen, die tagein, tagaus unter widrigsten Bedingungen einer prekären Arbeit nachgehen“, sagt eine der Sprecherinnen der Organisatoren. Und sie wehrten sich dagegen, Schwarzafrikaner unter Generalverdacht zu stellen.

Auch Spannungen ohne Polizei

Auch Anwohner berichten von Menschen, die nichts mit dem Drogenhandel zu schaffen haben, aber wegen ihrer Hautfarbe unter Verdacht geraten sind. Ein christlicher Konfirmand etwa, der sich der gesamten Polizeimacht gegenübersah. Ein Ghanaer, der in Hamburg nicht arbeiten darf, aber mehrmals ins Visier geraten ist. „Es kommt dann auch zu Spannungen ohne Polizei“, sagt einer, der seit Langem in der Sozialarbeit auf St. Pauli engagiert ist. „Die Dealer sagen zu anderen Afrikanern, sie sollen verschwinden. Oder mitmachen.“

Eine Gruppe von Dunkelhäutigen läuft bei der Demonstration an dem Sonnabend vorneweg, aber sie macht nur etwa ein Fünftel der Demonstration aus. Ein Alteingesessener sagt, er wundere sich immer wieder darüber, wie viele Menschen bei solchen Aktionen gar nicht aus dem Viertel stammten. „Da geht es um fundamentale politische Dinge.“ St. Pauli ist dafür vor allem einmal mehr eine Arena.

Polizei braucht Fingerspitzengefühl

Auf den langen grauen Fluren des Präsidiums ist allen bewusst, dass es im Kampf gegen die Drogenkriminalität auch Fingerspitzengefühl braucht. Aber übergroße Rücksicht kommt nicht infrage. „Die Leute dort haben verdammt noch mal auch einen Anspruch darauf, dass ihre Kinder in Ruhe zur Schule kommen und gehen“, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer dem Abendblatt. „Das müssen auch die zur Kenntnis nehmen, die Polizeieinsätze ablehnen.“

Nur ist es ein Kampf gegen eine Hydra. Fast täglich wechselten die Personen in den Gruppen der mutmaßlichen Dealer, sagen Beamte aus der Davidwache; als gesichert gilt, dass der Handel streng organisiert ist und die Hintermänner in Shisha-Bars und anderen Etablissements residieren.

Über die Hintermänner gibt es viele Theorien

Im Viertel sagen einige, denen ein echtes Gespräch mit den Dealern gelang, dass die Anführer ihre Laufburschen teils gezielt mit Touristenvisa aus Gambia direkt nach Deutschland schleusen – aber selbst meist keine Afrikaner seien. Erfahrene Ermittler sagen dagegen, dass es sich um geschlossene Banden einer Ethnie handele. Auch deshalb gelinge es kaum, etwa Beamte in die Organisationen einzuschleusen.

Auf der Straße müssen die Polizisten stoisch bleiben, wachsam, es sind heikle Entscheidungen, wer kontrolliert wird. Die ständigen Präsenzdienste sorgen aber auch innerhalb der Polizei für vernehmbares Murren. „Es ist bekannt, dass wir ohnehin an der Belastungsgrenze arbeiten. Und mit diesen Diensten wird man den Kollegen nicht gerecht­“, sagt Jan Reinecke, Landesvorsitzender des Bunds Deutscher Kriminalbeamter (BDK). „Die Polizei ist dazu da, Straftäter zu fassen und sie nicht nur zu vertreiben“, sagt er.

„Nervenaufreibende“ Einsätze

Der Polizeipräsident erkennt an, dass die Einsätze „nervenaufreibend“ seien – das Thema der Drogenbekämpfung werde die Polizei dennoch weiter begleiten. „Wir werden uns ganz sicher nicht ins Bockshorn jagen lassen und die erfolgreiche Arbeit konsequent fortsetzen“, so Meyer. Die Männer bei den Gewichten bleiben unauffällig, rauchen eine Packung Tabak leer, dann verabschieden sie sich vorerst. Eine Gruppe von Beamten schlendert regelmäßig unten entlang, die mutmaßlichen Dealer scheinen durch sie hindurchzusehen.

Zwei der Polizisten sind etwa 50 Meter weitergegangen, als sich einer der Männer wieder einen Schritt Richtung Straße nach vorn bewegt. Er schaut den Beamten kurz nach, dann wieder nach vorn. „Wie geht’s?“, sagt der Mann, kaum hörbar. Er trägt dabei keinen Anflug von einem Lächeln.