Hamburg. Tragischer Tod einer Radfahrerin in Eimsbüttel – ein Lkw-Fahrer übersah die Frau beim Abbiegen. Experten fordern Assistenzsysteme.

Mit stummem Entsetzen verfolgen Passanten am Montagmorgen den Rettungseinsatz der Feuerwehr. Gerade ist eine Radfahrerin an der Kreuzung Eppendorfer Weg/Osterstraße von einem Kühllaster überrollt worden. Die junge Mutter aus Altona-Nord liegt noch unter dem Fahrzeug, ihr völlig verformtes, graues Fahrrad unmittelbar davor. Wenig später landet ein Rettungshubschrauber auf der Kreuzung. Die erfahrenen Notärzte müssen sich nur kurz vergewissern, dann steht fest: Für die 33-Jährige gibt es keine Hoffnung mehr. Jede einzelne ihrer multiplen Verletzungen sei potenziell lebensbedrohlich gewesen, sagt ein Feuerwehrsprecher. Saskia Sch. verstirbt noch am Unfallort.

Der Unfallhergang ist wie ein Déjá-vu, der Tod der jungen Frau umso tragischer, weil er mutmaßlich vermeidbar war. Ähnliche Szenen haben sich in den vergangenen Jahren in Hamburg häufig abgespielt – viel zu häufig. Saskia Sch. befand sich mit ihrem Rad neben dem Laster und wollte bei Grün geradeaus auf dem Eppendorfer Weg weiterfahren.

Die Radlerin geriet unter den Lkw und wurde mitgeschleift

Der 48 Jahre alte Lkw-Fahrer hatte sie offenbar nicht wahrgenommen und stieß mit ihr zusammen, als er nach rechts auf die Osterstraße abbog. Die Radlerin geriet unter den Lkw und wurde meterweit mitgeschleift. Saskia Sch. hinterlässt zwei kleine Kinder (2009 und 2011 geboren). Der Lkw-Fahrer erlitt einen Schock und musste von einer Notfallseelsorgerin betreut werden.

Ereignet hatte sich der Unfall in Höhe des Szenelokals Vesper. Dessen Wirtin Stefanie H. (45) war vor drei Jahren beim Überqueren einer nur wenige Meter vom Unglücksort entfernten Ampel selbst von einem Auto erfasst und getötet worden. Auch das jüngste Unglück im Herzen von Eimsbüttel sorgt für Anteilnahme: Noch am Montagabend trafen sich rund 200 Radfahrer und Fußgänger am Unfallort, sie zündeten Kerzen an und legten Blumen ab. Einige legten sich zu einer „Liegedemonstration“ auf die Straße, um gegen den Autoverkehr zu demonstrieren. Merlin Wolf (34) stellte mit anderen Freiwilligen ein sogenanntes Ghost Bike am Unfallort auf. Dabei handelt es sich um ein altes, weiß gestrichenes Fahrrad, mit dem verunglückter Radfahrer gedacht werden soll. Die Idee stammt aus den USA. „Mit dem Mahnmal wollen wir auch auf eine mangelhafte Infrastruktur für Radfahrer hinweisen“, sagte Wolf dem Abendblatt.

Die tödliche Falle heißt "toter Winkel"

Insgesamt leben Radfahrer in Hamburg deutlich gefährlicher als Fußgänger. Zwar ging die Zahl der verunglückten Radfahrer 2017 um 4,8 Prozent auf 2318 zurück. Es sind aber mehr als doppelt so viele Radfahrer im Straßenverkehr verunglückt wie Fußgänger.

Und immer wieder wird der „tote Winkel“ von Lastwagen zur tödlichen Falle. 2016 ereigneten sich zwei „Abbiege­unfälle“, bei denen Radfahrer getötet wurden. In beiden Fällen wurden sie von einem Laster erfasst. In Harburg kam so eine 69-Jährige ums Leben, die in die gleiche Richtung wie der Lkw gefahren war. In Wandsbek wurde eine 19-Jährige getötet, als sie auf der Ritterstraße von einem von der Wandsbeker Chaussee abbiegenden Lastzug erfasst wurde. Erst im April kam eine Radfahrerin in Hummelsbüttel ums Leben, als sie dort eine vierspurige Straße überqueren wollte. Auch in dem Fall war die Frau von einem Lastwagen erfasst worden.

600 Unfälle dieser Art pro Jahr in Deutschland

Die Bundesanstalt für Straßenwesen registriert bundesweit jedes Jahr rund 600 Unfälle, bei denen Radfahrer von einem abbiegenden Lastwagen verletzt werden. 23 Prozent dieser Unfälle enden im Durchschnitt tödlich – der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) kommt sogar auf deutlich höhere Zahlen. „Rechts abbiegende Lkw stellen im innerstädtischen Bereich eine erhebliche Gefahr dar. 2017 kamen nach ADFC-Recherchen 38 Radfahrende bei solchen Unfällen ums Leben, das ist jeder zehnte der 383 beim Radfahren Getöteten“, sagt Hamburgs ADFC-Sprecher Dirk Lau.

Dabei ist seit Jahren bekannt, dass sich die Situation durch den Einbau elektronischer Abbiege-Assistenz-Systeme entschärfen ließe. Diese Systeme erkennen andere Verkehrsteilnehmer im direkten Umfeld und können den Lasterfahrer warnen. Der ADFC fordert die Abbiegewarner seit Längerem – und zwar nicht nur für die neu zugelassenen Laster ab 7,5 Tonnen, sondern auch für die alten. Eine verbindliche EU-weite Regelung ist aber noch Zukunftsmusik, auf die Bremse treten insbesondere osteuropäische Länder. „Wir fordern die schnelle Einführung solcher Systeme, die Leben retten können“, sagt Dirk Lau.

Pflicht für elektronische Warnsysteme in Lkw

Nach Berechnung von Unfallforschern könnten die Anlagen etwa die Hälfte aller schweren Lkw-Fahrrad-Unfälle verhindern. Vor wenigen Tagen haben mehrere Bundesländer eine Initiative in den Bundesrat eingebracht. Sie wollen den Bund zwingen, sich in der EU dafür starkzumachen, dass elektronische Warnsysteme in Lkw zur Pflicht werden.

Wie ein Sprecher der Innenbehörde erklärte, werde der Antrag von Hamburg „ausdrücklich begrüßt und unterstützt“. Inhaltlich würden darin verschiedene Aspekte aufgegriffen, die „auf Initiative Hamburgs bereits durch die Verkehrs­ministerkonferenz (VMK) beschlossen wurden“. Jedoch werde noch „inhaltlicher Anpassungsbedarf“ gesehen. Dem geänderten Antrag werde sich Hamburg dann aber ebenfalls anschließen.

Die Ausrüstung mit elektronischen Fahrhilfen sei das eine, eine vorsichtige Fahrweise der Lasterfahrer in belebten Wohnvierteln das andere, so Lau weiter. „Wenn ein Lkw-Fahrer langsam und umsichtig abbiegt und die Spiegel des Lkw richtig eingestellt sind, gibt es keinen toten Winkel und würden solche Unfälle wie der von heute morgen höchstwahrscheinlich vermieden werden können.“