Hamburg. Drastischer Werteinbruch des Netzes könnte die Übernahme durch die Stadt verhindern. Vattenfall beharrt auf Preis, den der Senat 2014 nach Volksentscheid garantiert hat
Die Situation ist fast schon grotesk: Jens Kerstan steht heute als Umweltsenator vor exakt dem Problem, das er schon 2014 als Grünen-Fraktionschef prophezeit hatte. Damals hatte Kerstan Bürgermeister Olaf Scholz und seinen SPD-Alleinsenat scharf für den Umgang mit dem Volksentscheid zum Rückkauf der Energienetze kritisiert. Anlass: Scholz hatte aus Sicht der Grünen zwei gravierende Fehler gemacht. Er hatte noch vor der Abstimmung über den kompletten Rückkauf jeweils nur 25,1 Prozent des Strom-, Gas- und Fernwärmenetzes für die Stadt gekauft. Als dann im Volksentscheid der komplette Rückkauf beschlossen wurde, musste der Teilkauf umständlich wieder rückabgewickelt werden. Während Strom- und Gasnetz mittlerweile bereits wieder in städtischer Hand sind, musste der Rückkauf damals auf 2019 verschoben werden – aus steuerlichen Gründen, die sich aus dem im Nachhinein überflüssigen 25,1-Prozent-Deal der SPD ergaben. Zweiter Fehler aus Sicht der Grünen: Scholz garantierte Vattenfall in einem 2014 nach dem Volksentscheid geschlossenen Vertrag über den Rückkauf auch für die Zukunft einen Mindestpreis von 950 Millionen Euro für seinen Anteil von 74,9 Prozent am Fernwärmenetz. Dabei habe der SPD-Senat „schlecht verhandelt“ und Vattenfall „einen sehr hohen Mindestpreis garantiert“, sagte Kerstan 2014 dem Abendblatt. Sollte sich dieser Preis 2018 als zu hoch erweisen, verbiete nämlich die Landeshaushaltsordnung den Kauf der Fernwärme. „Denn die Stadt darf schlicht keine Minusgeschäfte machen“, so Kerstan. „Es gibt hier nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist das ganz schlechtes Handwerk, oder der Senat will den Volksentscheid mit voller Absicht ins Leere laufen lassen.“
Nun sieht sich Kerstan als Senator selbst mit genau diesem Szenario konfrontiert – aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Wenn die Stadt die Fernwärmeleitungen und -kraftwerke (u.a. Wedel und Tiefstack) nicht übernehmen kann, dann kann Kerstan die Fernwärme auch nicht in ein klimafreundliches System mit dezentraler Erzeugung umbauen, wie es die Pläne vorsahen. Damit wäre wieder offen, wie Hunderttausende Hamburger Haushalte, die Wärme beziehen, versorgt werden sollen.
Vattenfall-Chef Pieter Wasmuth hatte bereits im Januar im Abendblatt klargemacht, dass Vattenfall kein Angebot unter dem 2014 vom Scholz-Senat garantierten Mindestpreis akzeptieren werde. Offensichtlich verfolgt der Konzern ein auch von CDU und FDP propagiertes Ziel: den Anschluss seines Kohlekraftwerks Moorburg an das Fernwärmenetz. Das hat der Konzern in dieser Woche erneut deutlich gemacht – indem er eine Genehmigung für eine Leitung zum Anschluss bei Kerstans Umweltbehörde beantragte.
Für die Grünen ist der Anschluss des Kohlekraftwerks an die Fernwärme undenkbar – denn Wärme aus Kohle ist aus ihrer Sicht Gift für das Klima. Kerstan dürfte alles tun, um dieses Szenario zu verhindern – wäre es doch die zweite Demütigung der Grünen durch Vattenfall, nachdem die damalige Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk das Kohlekraftwerk Moorburg im vergangenen Jahrzehnt aus rechtlichen Gründen gegen ihren Willen und entgegen grüner Wahlversprechen genehmigen musste.
Im Grunde bleiben dem Senat nur zwei Möglichkeiten: Er kann sich mit der aktuellen Konstellation arrangieren, belässt es bei seinen 25,1 Prozent und sucht gemeinsam mit Vattenfall nach einer Lösung – was angesichts der gegensätzlichen Interessen extrem schwierig sein dürfte. Oder er dreht den Spieß um und zwingt Vattenfall, die 25,1 Prozent der Stadt für den mittlerweile ebenfalls überhöhten Garantiepreis von 325 Millionen Euro zurückzukaufen. Denn eine solche „Put-Option“ wurde ebenfalls vereinbart. Dann hätte Vattenfall wieder die alleinige Kontrolle über die Fernwärme – und der Volksentscheid würde nicht nur nicht umgesetzt, sondern sogar in sein Gegenteil verkehrt.
„Der Wert des Fernwärmenetzes wäre deutlich höher, wenn Senator Kerstan den Anschluss des Kraftwerks Moorburg an das Fernwärmenetz nicht verhindern würde“, sagt FDP-Fraktionschef Michael Kruse. „Der rot-grüne Senat muss von seinem teuren Irrweg endlich abkommen und das Kraftwerk Moorburg an das Fernwärmenetz anschließen, um die Fernwärme bezahlbar zu halten. Andernfalls droht eine riesige Kostenexplosion für die Hamburger.“ Kerstan stecke „in einem selbst verursachten Schlamassel, aus dem er sich nur durch eine Verabschiedung von grüner Ideologie befreien kann“, so Kruse.
BUND-Chef Manfred Braasch kritisiert dagegen vor allem die vom SPD-Alleinsenat 2014 geschlossenen Verträge. „Sollte tatsächlich der aktuelle Unternehmenswert der Fernwärme deutlich unterhalb des vereinbarten Mindestkaufpreises liegen, zeigt dies, wie leichtsinnig damals der SPD-Senat die Verhandlungen mit Vattenfall geführt hat“, so Braasch. „Die Übernahme der Fernwärme muss trotzdem erfolgen, der Volksentscheid ist bindend. Das Geld ist gut angelegt, um die Zukunftsaufgaben im Klimaschutz tatsächlich bewältigen und Synergien aus dem kommunalen Betrieb aller drei Energienetze heben zu können.“ Zudem setze der aktuelle Fernwärmebetreiber Vattenfall weiterhin „auf klimaschädliche Kohle, versucht den Einstieg in erneuerbare Wärme aktiv zu sabotieren und ist kein energiepolitischer Partner für Hamburg.“
Fernwärme könnte für ersten großen Koalitionskrach sorgen
Denkbar ist, dass die Zukunft der Fernwärme auch in der rot-grünen Koalition noch für heftigen Streit sorgt. Die SPD ist nämlich grundsätzlich nicht so allergisch gegen Kohlekraftwerke wie die Grünen. Den Genossen ist wichtig, dass die Preise für die Endverbraucher nicht zu stark steigen. Und am günstigsten für die Kunden wäre womöglich wirklich ein Anschluss von Moorburg. Der wäre aber wohl nicht nur Gift für das Weltklima – sondern auch für die Grünen an den Wahlurnen bei der Bürgerschaftswahl 2020. Für einen Kauf zu dem nun womöglich deutlich überhöhten Mindestpreis müsste es, falls dieser überhaupt möglich ist, wohl auf jeden Fall einen neuen Bürgerschaftsbeschluss geben. Dass die SPD-Abgeordneten dafür einhellig die Hand heben, gilt allerdings vielen (Grünen) als unwahrscheinlich. Der Zoff scheint also programmiert.
Offiziell soll das neue Wertgutachten zur Fernwärme Mitte oder Ende April präsentiert werden. Sollte eine der beiden Seiten mit dem ermittelten Wert nicht einverstanden sein, würde ein zweites Gutachten beauftragt – dessen Ergebnis dann für beide Seiten verbindlich wäre. Im Herbst muss der Senat dann nach den Vorverträgen entscheiden, ob er die fehlenden 74,9 Prozent kauft, ob er darauf verzichtet – oder Vattenfall sogar zur Rücknahme der städtischen 25,1 Prozent zwingt.
Die Zukunft der Hamburger Fernwärmeversorgung scheint dieser Tage so unklar wie selten zuvor.
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