Hamburg. Der Mann verschreckte Schüler in der Jugendherberge am Stintfang. Seit 30 Jahren zieht er sich in der Öffentlichkeit aus.

Ernst Wilhelm W. ist 70 Jahre alt, hört nicht mehr gut und hat neben einem beträchtlichen Vorstrafen-Register einen eigenen Wikipedia-Eintrag, der ihn als Exhibitionist und „Flitzer“ ausweist. Damit ist gemeint: Ernst Wilhelm W., Spitzname „Ernie“, zieht sich in aller Öffentlichkeit aus, überall und immer wieder.

Jahrelang entblätterte er sich etwa für die Erstsemester im Audimax seiner Heimatstadt Bielefeld und ließ dabei wie ein Bodybuilder die Muskeln spielen. „Normalerweise bekomme ich für meine Auftritte Applaus“, sagt Ernst Wilhelm W. Beifall gab es am 22. Juni 2017 nicht. Dafür Tränen, verstörte Jugendliche und am Ende eine Strafanzeige, die ihn am Montag vors Hamburger Amtsgericht gebracht hat.

„Aber das war doch nicht dramatisch"

An jenem Abend mischte sich Ernst Wilhelm W. in der Jugendherberge am Stintfang bei der Abschlussfeier einer Wuppertaler Schulklasse unter die tanzenden Schüler. In ihrer Mitte stand ein Stuhl. Wer wollte, meist waren es Jungs, konnte sich darauf setzen und antanzen lassen. Anfangs lümmelte Ernst W. noch in einer Ecke des Raums herum, dann forderte ihn eine Lehrerin zum Mittanzen auf. Der tanzende Greis als Party-Gag – das wäre fein gewesen.

Doch der 70-Jährige setzte sich auf den Stuhl und strippte sich sämtliche Klamotten vom Leib. „Die Mädchen kreischten und stürmten aus dem Saal“, sagt Ernst Wilhelm W. „Aber das war doch nicht dramatisch.“ Wenigstens zwei Schülerinnen, so die Staatsanwaltschaft, habe der bizarre Auftritt angewidert. Ein Mädchen habe einen Weinkrampf erlitten, berichtet ein Polizeibeamter im Zeugenstand. „Sie wirkte deutlich verstört.“

27 Vorstrafen wegen Freikörper-Ticks

Ernst Wilhelm W. ist ein schwieriger Fall, vor allem für die Gerichte. Sein Freikörper-Tick hat ihm bereits 27 Vorstrafen eingebracht. 1997 enterte er beim Weltkongress der Soziologen in Köln nackt die Bühne, 2005 flitzte er während eines Bundesligaspiels im Dortmunder Westfalenstadion vor fast 80.000 Zuschauern aufs Spielfeld und posierte wie ein Bodybuilder. In Bielefeld ist er etliche Male unbekleidet Fahrrad gefahren, 2009 entblößte er sogar während einer Urteilsverkündung seine Manneszier.

Von den 30 Jahren, in denen er öffentlich blankzieht, habe er zehn Jahre im Gefängnis verbracht, sagt der Angeklagte. Er brauche die Aufmerksamkeit und verstehe sich als lebendes Kunstwerk. Seine Zeit als Aktmodell an der Kunstschule sei für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen. „Kunst kommt von Können“, findet der Angeklagte. Amtsrichterin Monika Schorn: „Was können Sie denn?“. Der Angeklagte: „Soll ich ihn mal rausholen?“ Richterin: „Nein, nicht nötig.“

Zwei Gutachter haben dem 70-Jährigen eine schwere Persönlichkeitsstörung attestiert – auch Richterin Schorn geht deshalb am Montag von einer verminderten Schuldfähigkeit aus. Sie verurteilt ihn – unter Einbeziehung einer älteren Strafe – wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses zu neun Monaten Haft. Eine Bewährungsstrafe komme nicht in Betracht, zumal schon die früheren Urteile den Angeklagten nicht beeindruckt hätten. „Sie können Ihre Freiheit nicht auf Kosten anderer Menschen ausleben“, sagt Schorn. Ihr Rat: „Begeben Sie sich in Therapie.“