Hamburg. Hamburgs neuem Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) fehlten bei seiner Wahl mindestens drei Stimmen von Rot-Grün.

Der Keim des Misstrauens und der Zwietracht ist gelegt. Mindestens drei Stimmen aus dem rot-grünen Koalitionslager fehlten Peter Tschentscher bei seiner Wahl zum Ersten Bürgermeister am Mittwoch in der Bürgerschaft. Das ist für die nun an­laufende Regierungsarbeit kein Beinbruch: Einmal ist die rechnerische Mehrheit von Rot-Grün mit 73 der 121 Sitze recht komfortabel, sodass einige Abweichler theoretisch zu verkraften wären. Aber im Normalfall wird ohnehin offen abgestimmt, und das diszipliniert bekanntlich erheblich.

Auf jede Bürgermeisterwahl folgt der Vergleich mit früheren Wahlgängen. Auch diesmal: Kaum hatte Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) Tschentschers Ergebnis verkündet, als die ersten CDU-Abgeordneten süffisant darauf hinwiesen, dass selbst der glücklose Erste Bürgermeister Christoph Ahlhaus (CDU) bei seiner Wahl am 25. August 2010 mindestens zwei Stimmen der damaligen Opposition von SPD und Linken erhalten hatte.

Scholz bekam Stimmen von der Opposition

Und auch Olaf Scholz verzeichnete stets Ergebnisse „über den Durst“: Nach dem historischen Wahlerfolg 2011 – Scholz und die SPD errangen aus der Opposition heraus die absolute Mehrheit – waren die Umstände sogar besonders kurios. Die knappe Mehrheit von 62 der 121 Stimmen stand am Ende, obwohl ein SPD-Abgeordneter gar nicht erschienen war. Beim Zählappell in der SPD-Fraktion stellte der dama­lige Vorsitzende Michael Neumann plötzlich fest, dass der Harburger Neuparlamentarier Frank Wiesner fehlte. Wiesner hing auf einem Flughafen im westafrikanischen Togo fest, was ihm den Spottnamen „Togo-Frank“ und mächtigen Ärger vor allem bei Neumann einbrachte.

Die SPD-Abgeordnete Birte Gutzki-Heitmann, die erst wenige Tage zuvor eine Tochter zur Welt gebracht hatte, ließ sich im Rollstuhl in den Plenarsaal fahren und sicherte Scholz somit die eigene Mehrheit. Am Ende votierten für den Sozialdemokraten sogar 62 Abgeordnete – einer mehr als die SPD-Fraktion an diesem Tag aufzubieten hatte. Bei der zweiten Scholz-Wahl 2015 stimmten sogar mindestens drei Oppositionsabgeordnete für den Ersten Bürgermeister.

Klassische Denkzettel-Situationen

Geheime Abstimmungen bei Personalwahlen sind klassische Denkzettel-Situationen. Das politische Risiko ist für Abweichler gering, der Effekt gelegentlich erheblich. Dabei galten die fehlenden Stimmen für Tschentscher vermutlich nicht einmal ihm persönlich. Dafür spricht, dass auch der rot-grüne Senat bei seiner Bestätigung durch die Bürgerschaft nur auf 71 Stimmen kam. Das lässt den Schluss zu, dass es den Abweichlern vor allem um Kritik an dem Verfahren ging, das zur Scholz-Nachfolge und den weiteren SPD-Personalien führte. Alle Insider gehen davon aus, dass die Neinstimmen aus der SPD-Fraktion stammen müssen, weswegen die Suche nach den „Schuldigen“ dort auch sofort begann.

Lange hatte SPD-Fraktionschef Andreas Dressel wie der sichere Nachfolger von Scholz ausgesehen, ehe er in einer nächtlichen Runde von einem kleinen Kreis maßgeblicher Sozialdemokraten im Rathaus verzichtete und Tschentscher plötzlich Kandidat war. Weil nicht alle maßgeblichen Genossen an der klandestinen Runde im Büro des Bürgermeisters teilnahmen, gab es hinterher schnell Ärger.

Verhärtete Fronten

Vor allem SPD-Mitte-Chef Johannes Kahrs, der fest mit Dressel gerechnet hatte, war erbost. Die Rathausrunde hatte ein Personalpaket geschnürt, das auch die Wahl von Sozialsenatorin Melanie Leonhard zur neuen SPD-Chefin und von Dressel zum neuen Finanzsenator einschloss. Auf geradezu empörte Ablehnung stieß jedoch, dass sich die Runde im Nebenbei auch noch darin einig war, dass der Eimsbütteler SPD-Kreischef Milan Pein Nachfolger von Dressel an der Spitze der Fraktion werden sollte. Kahrs sah den zweiten Aspiranten auf den Fraktionsvorsitz, seinen Mitte-Parteifreund und Parlamentarischen Geschäftsführer Dirk Kienscherf auf kaltem Weg ausgebootet. Auch drei Wochen nach dem denkwürdigen Treffen ist die Frage, wer Fraktionschef werden soll, nach wie vor ungeklärt.

Tschentscher zum Bürgermeister vereidigt:

Eine Runde mit Dressel, Parteichefin Leonhard sowie Pein und Kienscherf ging am Mittwochabend ohne Ergebnis auseinander. Hinter beiden denkbaren Kandidaten – keiner hat sich bislang offiziell erklärt – stehen die Kreise, wie die alten Flügel der SPD heute genannt werden. Der Kreis „Links und frei“ unterstützt Pein, der Freundeskreis des Mitte-Rechts-Lagers steht zu Kienscherf. Die Lage wird dadurch kom­plizierter, dass auch die sogenannten Landesgruppen, in denen sich die Abgeordneten eines Kreisverbands zusammenschließen, stärkeres Gewicht gewonnen haben. Einiges spricht dafür, dass die Fronten noch verhärteter sind.

Mehrere Varianten

Variante eins: Kienscherf wird Fraktionschef. Dann muss Pein etwas angeboten werden. Nach Lage der Dinge könnte er Kienscherf im Amt des Parlamentarischen Geschäftsführers folgen – nach dem Fraktionschef der wichtigste Posten. Allerdings müsste sich der selbstständige Rechtsanwalt Pein dann ganz der Politik verschreiben. Es ist offen, ob er das will. Die weniger attraktive Variante wäre, dass Pein einer von drei Vize-Fraktionschefs wird. Voraussetzung wäre, dass Monika Schaal, die wie Pein aus Eimsbüttel kommt, zurücktreten würde.

Variante zwei: Pein wird Fraktionschef. Dann könnte dem Mitte-Rechts-Freundeskreis als Kompensation wenig angeboten werden. Kienscherf würde Geschäftsführer bleiben und seine Stellung nicht verbessern.Bliebe die Variante, dass ein dritter Kandidat oder eine Kandidatin plötzlich aus der Taufe gehoben wird. Noch versuchen die Matadore allerdings, einen Konsens zwischen Pein und Kienscherf hinzubekommen. Bis zum 9. April bleibt noch Zeit. Dann soll der Dressel-Nachfolger gewählt werden.