Hamburg. Nach Jahren weitgehender Einigkeit drohen alte Streitigkeiten wieder auszubrechen. Rennen um den Vorsitz noch völlig offen

21 zu 20 Stimmen: Mit der knappsten aller denkbaren Entscheidungen vergab die SPD ihren damals wichtigsten Posten: Michael Neumann wurde am 29. März 2004 mit 34 Jahren bundesweit jüngster SPD-Fraktionschef und stürzte Amtsinhaber Walter Zuckerer. Die SPD war seit drei Jahren in der Opposition und eine tief zerstrittene und im Grunde verzagte Partei. Neumann war bereits der dritte Fraktionschef in dieser kurzen Zeit. Und: Gerade hatten Ole von Beust und die CDU sogar die absolute Mehrheit geholt. In Hamburg bis wenige Jahre zuvor eigentlich unvorstellbar.

Der hauchdünne Wahlerfolg des Berufssoldaten war das Ergebnis parteiinterner Lobbyarbeit. Der spätere Innensenator Neumann, fest verankert im SPD-Kreisverband Mitte, erhielt Unterstützung aus dem Mitte-rechts-Lager der Sozialdemokraten. Der Parteilinke Zuckerer war auch in seinem Lager nicht unumstritten. Das mag den Ausschlag gegeben haben.

Es gibt nicht wenige unter den erfahrenen Sozialdemokraten, die sich in diesen Tagen an die Auseinandersetzung vor 14 Jahren erinnern und eine Wiederkehr der alten Grabenkämpfe befürchten. Die inhaltlichen Zerwürfnisse zwischen den Flügeln sind zwar in den Jahren abgeflaut, als Olaf Scholz Erster Bürgermeister und SPD-Landeschef war – er wird auf letzterem Posten am heutigen Sonnabend durch Sozialsenatorin Melanie Leonhard abgelöst. Aber wenn wichtige Personalwahlen anstehen, dann treffen sich die informellen Zirkel der Parteilinken – der Övelgönner Kreis – und der Freundeskreis des Mitte-rechts-Lagers, um Chancen auszuloten und Strategien festzulegen. Zuchtmeister Scholz, jetzt als Bundesfinanzminister und Vizekanzler in Berlin, fehlt manchem SPDler schon jetzt.

Die Sondersitzung der 59 SPD-Abgeordneten am Mittwoch machte die aktuelle Verunsicherung der Sozialdemokraten deutlich. Eigentlich sollte es nur um die Vorstellung von Peter Tschentscher als künftigem Ersten Bürgermeister und von Leonhard als Parteichefin sowie um den Fahrplan für die Wahlen gehen. Doch nicht nur die völlig überraschende Kür von Tschentscher – SPD-Fraktionschef Andreas Dressel hatte im letzten Augenblick abgesagt –, sondern auch die aktuelle Meinungsumfrage, die die SPD nur noch bei 28 Prozent sieht, zwingt zur Neubewertung der Lage. Der Abgang von Scholz, das schwant nun vielen in der SPD-Fraktion, ist eine Zäsur.

Das rot-grüne Bündnis steht, aber trotzdem werden die Karten mit Blick auf die Bürgerschaftswahl 2020 neu gemischt. Schon haben Abgeordnete ausgerechnet, was die 28 Prozent für sie bedeuten würden: Die SPD käme nur noch auf 35 bis 40 Sitze und würde rund 20 Mandate verlieren. Diese Aussicht hob die Stimmung in der Fraktionssitzung selbstverständlich auch nicht, sondern führte zu einer gewissen Nervosität.

Dass die SPD-Fraktion ihren langjährigen Vorsitzenden Dressel verlieren würde – er wird zwar nicht Bürgermeister, aber Finanzsenator –, wussten die Abgeordneten seit vielen Wochen. Doch trotz des langen Vorlaufs ist die Führungsfrage derzeit noch völlig offen. Es ist aber durchaus kein Zufall, dass bislang die Namen von zwei Abgeordneten für die Dressel-Nachfolge genannt werden, die den beiden Lagern klar zuzurechnen sind: Der parlamentarische Geschäftsführer Dirk Kienscherf entstammt der parteirechten Mitte-SPD. Milan Pein, Eimsbütteler SPD-Kreischef und Vorsitzender des G-20-Sonderausschusses, wird den Linken zugerechnet.

Noch haben Pein und Kienscherf ihre Kandidaturen nicht offiziell erklärt, intern gegenüber ihren „Freunden“ aber deutlich gesagt, dass sie bereit seien, anzutreten. Angesichts des Umfragetiefs und der reichlich holprigen Scholz-Nachfolge haben sich die SPD-Abgeordneten vorgenommen, eine einvernehmliche Lösung zu erzielen. „Wie bisher streben wir für alle Neuaufstellungen in der Fraktionsspitze einen breiten Konsens an, um die gute Zusammenarbeit der Fraktion auch in Zukunft fortzusetzen“, erklärte Kienscherf im Anschluss an die Sitzung am Mittwoch. Mit anderen Worten: Eine Kampfkandidatur Pein gegen Kienscherf – siehe Neumann gegen Zuckerer 2004 – soll unter allen Umständen vermieden werden.

„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in die alten Zwistigkeiten zurückfallen“, warnt ein erfahrener SPD-Parlamentarier dennoch. Bis zum 4. April haben die Strategen noch Zeit, sich zusammenzuraufen. Dann will sich der geschäftsführende Fraktionsvorstand auf einen Vorschlag verständigen.

Die Lösungsfindung wird erschwert durch einen Vorgang, der manche in der SPD nach wie vor empört: die Vorfestlegung für Pein durch eine Reihe maßgeblicher Sozialdemokraten. Bei dem schon legendären Treffen einer kleinen Gruppe um Olaf Scholz am Donnerstagabend vor zwei Wochen im Rathaus fiel einerseits die alle überraschende Entscheidung, dass sich nicht Dressel, sondern Tschentscher in der Bürgerschaft als Erster Bürgermeister zur Wahl stellen wird. Auch dass Leonhard neue SPD-Landeschefin und Dressel Finanzsenator werden soll, wurde da festgeklopft.

Und einig war sich die Runde außerdem, dass Milan Pein von Dressel den Fraktionsvorsitz übernehmen sollte. Gleichzeitig wurde aber betont, dass die Entscheidung über den Posten Sache der Abgeordneten sei, insofern nicht Teil des Personaltableaus war. Dennoch führte diese Vorprägung zu einem Zornesausbruch des SPD-Mitte-Chefs Johannes Kahrs am folgenden Tag. Kahrs, der bei dem Treffen nicht dabei gewesen war und fest mit Dressel als neuem Bürgermeister gerechnet hatte, sah die Interessen seines Kreisverbands übergangen, weil Mitte-Mann Kienscherf nicht Teil der Überlegungen war.

Etwas unangenehm ist die Lage für Dressel, der an der Rathaus-Runde teilgenommen hatte. Dass er offensichtlich das Pein-Votum mittrug, erschwert nun seine Rolle als Vermittler und Moderator bei der Regelung seiner Nachfolge. Andererseits: Dressel wird fehlen, denn er hat in den sieben Jahren seines Vorsitzes die Fraktion mit seinem auf Ausgleich bedachten politischen Charakter auf Einigungskurs gehalten.

Nicht nur die informellen linken und rechten Freundeskreise treffen sich, auch die „Landesgruppen“, also die Abgeordneten der jeweiligen Kreisverbände, melden ihre Ansprüche an – keinesfalls nur die rührigen Mitte-Genossen. Der größte Kreisverband Wandsbek fordert einen Sitz im geschäftsführenden Fraktionsvorstand, weil der Wandsbeker Dressel gehen wird. Und die Altonaer Sozialdemokraten sind nach dem Rücktritt von Olaf Scholz in Senat und Parteiführung auch unterrepräsentiert. Die Lage wird unübersichtlich – mit dem Wechsel der beiden Führungsfiguren steht die SPD am Scheideweg.