Hamburg. Alain Badiou, einer der bekanntesten französischen Intellektuellen, über die Krisen in der Welt und mögliche Lösungen.

Der französische Philosoph, Mathematiker und Autor Alain Badiou ist auch mit 81 Jahren ein gefragter Redner und Diskussionsteilnehmer. Anlässlich der Reihe „Passagen Gespräche“ in Hamburg, in der er gestern Abend auf Kampnagel mit dem Verleger Peter Engelmann sprach, äußerte sich Badiou zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen, zum Nationalismus, Donald Trump und zur Krise der Linken. Wir haben ihn vorher getroffen.

In Frankreich wurde die extreme Rechte bei den Präsidentschafts-Wahlen ausgebremst, aber ­gerade haben die Populisten und Nationalisten in Italien die Wahl gewonnen. Kommt Ihre große Zeit erst noch?

Alain Badiou: Ich glaube, dass die ­Nationalisten dabei sind, die Macht zu übernehmen. Das betrifft ganz Europa. Es ist, wie man an Donald Trump und an Südamerika sieht, ein globales Phänomen, kein regionales. Das geschieht als Antwort auf den Weltkapitalismus. Die zweite Ursache ist die extreme Schwäche der Linken in Europa und in der Welt. Gegen den globalen Kapitalismus gibt es zwei Möglichkeiten. Zurückzukehren zum Nationalismus und Populismus oder sich einer neuen Zukunft zuzuwenden, einer neuen Linken.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus im Osten ist der globale Kapitalismus ja das einzig verbliebene System. Läuft da etwas falsch?

Der Fall des Sozialismus hat den Kapitalismus entfesselt. Ich glaube aber nicht, dass er die Zukunft der Menschheit ist. Er stabilisiert die Weltordnung nicht. Wir sehen Kriege an vielen Orten, die Massen sind arm und fliehen, um ­irgendwo anders leben zu können.

Sie haben sich einmal gegen die Idee der ­Integration ausgesprochen. Wie kann die europäische Idee überleben?

Integration sagt im Grunde, man muss das Andere akzeptieren, damit es so wird wie man selbst. In Frankreich will man, dass die Schwarzen Weiße werden. Dahinter steht die Idee der Ablehnung des anderen. Der Sozialismus war historisch aus guten Gründen international angelegt. Wir brauchen eine neue internationale Mentalität. Es gibt keine einzelne Humanität, keine einheitliche Welt.

Politiker, darunter eher ablehnend der Hamburger Kultursenator, diskutieren eine „Leitkultur“. Was halten Sie davon?

Der Begriff der Leitkultur ergibt für mich keinen Sinn. Was soll das sein? Die französische Literatur ist höherwertiger als die chinesische? Man kann sagen, es gibt eine Mathematik, aber alles andere ist variabel. Da geht es um Sprache und um eine individuelle Historie. Das ist ein imperialistisches Konstrukt.

In Ihrem Buch „Trump. Amerikas Wahl“ schreiben Sie, Kritik reiche nicht aus. Man müsse handeln. Inwiefern?

Die Wahl hat ein Ungleichgewicht ­geschaffen. Die Situation ist chaotisch. Trump lernt, dass er nicht machen kann, was er will. Auf der anderen Seite ist die Linke traumatisiert. Sie müsste autonomer sein, nicht so stark an die demokratischen Partei gebunden.

Im Nahen Osten und in Afrika herrscht Krieg, der auch im Westen zu Krisen führt. Woher könnte eine Lösung kommen?

In Syrien, Irak, Libyen sind die Staaten geschwächt oder zerstört. Militärische Banden zirkulieren. Alle großen Mächte haben interveniert. Mich erinnert das an die Lage auf dem Balkan vor dem Ersten Weltkrieg. Es gibt nur zwei ­Wege. Eine neue Macht gewinnt und schafft es, das Volk wieder zu vereinen. Wenn das nicht gelingt, könnten wir auf einen großen Weltkrieg zusteuern. Auch damals wollte niemand einen Weltkrieg, es gab ein lokales Problem in Sarajewo, das nicht gelöst wurde.

Die Linke steckt weltweit in der Krise. Sie wollen sie neu beleben. Wie?

Die Linke kollaboriert zugunsten der Macht. Die Leute können zwischen der Linken und Rechten nicht mehr unterscheiden. Man muss eine Linke schaffen, die einen Willen zur Veränderung der Situation hat. Wir müssen das Privateigentum in Frage stellen. Fünf Prozent haben so viel wie drei Milliarden andere, das ist eine ungeheuerliche ­Ungerechtigkeit. Es darf aber nicht sein, dass der Staat alles besitzt. Das Eigentum muss wirklich dem Kollektiv gehören. Besitz und Arbeit sind zu organisieren. Der Gegensatz zwischen Befehls­gebern und -empfängern, geistiger und körperlicher Arbeit, Männern und Frauen, ist aufzuheben. Die politische Macht sollte global sein. Die konkrete Politik müsste viel direkter auf allen Ebenen zwischen Volk und Mächtigen ausgehandelt werden.

Aktuelle Werke:

Alain Badiou, Jahrgang 1937, unterrichtet seit seiner Emeritierung am College International de philosophie und ist Professor an der European Graduate School. Er hat mehr als ein Dutzend philosophische Bücher, aber auch Romane und Theaterstücke veröffentlicht. Im Wiener Passagen-Verlag erschienen zuletzt „Trump. Amerikas Wahl“, „Für eine Politik des Gemeinwohls“, „Philosophie und Aktualität“ und „Lob der Liebe“. Demnächst erscheint: „Was ­verstehe ich unter Marxismus?“