Hamburg. Sie hinterließ einen tieferen Eindruck als viele andere. Barbara Kisseler war mehr als “eine Frau mit Grandezza“. Eine Spurensuche.

Tatsächlich: Auf der Informationstafel im Foyer des Rathauses wird Barbara Kisseler noch als Kultursenatorin geführt. Fast anderthalb Jahre nach ihrem Tod. Ein Lapsus, offensichtlich, niemand kam auf die Idee, den Text noch einmal gründlich durchzulesen. Auf dem optischen Senatoren-Tableau daneben ist ihr Konterfei längst durch ein Bild ihres Nachfolgers ersetzt. Überklebt. Einen neuen Ausdruck hat man sich pragmatisch gespart.

Mehr als fünf Jahre hatte Barbara Kisseler die Kulturpolitik der Hansestadt geprägt; im Oktober 2016, nach monatelanger Abwesenheit und nur wenige Wochen vor der Eröffnung der Elbphilharmonie, starb sie an Krebs. Eine heimtückische Krankheit und doch eine alltägliche. Barbara Kisseler wurde 67 Jahre alt.

Was aber bleibt nach einem Leben in der Politik? Nach ungezählten Sitzungen und Abendterminen, nach Reden und Grußworten, nach Konflikten und Kompromissen? Nach durchgetagten Nächten, nach Urlauben mit Aktenstudium? Optische Spuren sind es, zumindest in Hamburg, nicht. Weder im Rathaus noch in der Kulturbehörde hängt ein Foto der Senatorin. Und doch wird, auch so viele Monate nach ihrem Tod, wohl kaum jemand noch so oft auf Empfängen oder in Reden erwähnt wie Barbara Kisseler. Mit Dankbarkeit, mit Respekt, nicht selten mit einem süffisanten Lächeln. Der Eindruck, den sie in Hamburg hinterlassen hat, ist offenbar ein prägender.

Was also bleibt? Was ist dieses Etwas, das die Präsenz einer Person über den Tod hinweg trägt? Wie lässt es sich festhalten? Gibt es – auch außerhalb der ganz großen historischen Zusammenhänge – so etwas wie ein politisches Vermächtnis?

Es ist, letztlich, auch die Frage danach, ob es sich eigentlich lohnt.

Die Suche nach Antworten führt zu jenen, mit denen Barbara Kisseler ihren politischen Alltag verbrachte. Wie bei vielen Menschen, die einen Beruf haben, der sowohl Leidenschaft als auch ein hohes Sendungsbewusstsein erfordert, war das ein Großteil auch ihres persönlichen Lebens. Die Suche führt ins Rathaus und an ihren alten Arbeitsplatz, in die Finanzbehörde und in das Wohnzimmer einer Vorgängerin, ins Ernst Deutsch Theater, ins Gängeviertel und sogar bis ins Schloss Bellevue nach Berlin. Es wird dabei viel gelacht. Und es wird in Gesprächen, in denen man dies nicht vermutet hatte, geweint und anschließend um Diskretion gebeten.

Es ist eine Reise auf den Spuren einer starken Persönlichkeit. Und nicht zuletzt ist es die Bestätigung Bertolt Brechts: Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.

Barbara Kisseler im großen Saal der Elbphilharmonie
Barbara Kisseler im großen Saal der Elbphilharmonie © picture alliance / dpa

Ihr Nachfolger hat seine Bücher zwischen ihre gestellt

Das Senatorenbüro der Kulturbehörde hat sich seit Barbara Kisselers Tod kaum verändert. Der Glas-Schreibtisch ist derselbe, die Leuchte darauf noch immer von Ikea. Geblieben ist, wenn auch leicht versetzt, ein gerahmtes Foto, das Barbara Kisseler einst von dem Magnum-Fotografen Thomas Höpker geschenkt bekam. Man sieht in der Wand noch die Bohrlöcher an der Stelle, wo es ursprünglich hing. „Ministerium für Kultur und Veranstaltungsbüro“ steht da auf einem vergilbten Pappschild, späte DDR. „Das trifft ziemlich exakt auch meinen Humor“, sagt Carsten Brosda und lächelt. Er ist Barbara Kisselers Nachfolger, seit dem 1. Februar 2017 ist er offiziell im Amt. Seine Bürowand ergänzt mittlerweile ein düsteres Schlacke-Werk des Künstlers Gerd Stange, Brosda nickt zufrieden. „Als Kind des Ruhrgebiets fand ich, ein bisschen Schlacke an der Wand schadet nicht.“ Ein Brosda-Kommentar, der Kisselers Lakonie sehr nahe kommt. „Sie ist präsent“, bestätigt der Senator, in der Behörde arbeite man „in Traditionslinien, jedenfalls in diesem Fall“. Seine Bücher hat er zwischen ihre gestellt. Auf den ersten Blick fallen Enzensberger (von ihr) und Bill Gates (von ihm) ins Auge. Nur fünf Wochen hatten Kisseler und ihr damaliger Staatsrat gemeinsam in der Behörde, bevor sie krank wurde. Ihr letzter persönlicher Kontakt war im Frühsommer des Todesjahres. „Wir haben wahnsinnig viel geredet und fanden schnell ein gemeinsames Humorlevel, von dem aus man vieles klären konnte. Wir mussten uns nur angucken und wussten, was wir von einer Situation zu halten hatten.“ Dennoch haben beide sich bis zum Schluss gesiezt. „Sie blieb dabei, auch wenn wir manchmal ins Du ausrutschten.“ Gern hätte Brosda über ihre Netzwerke hinweg Menschen kennengelernt, wäre „noch ein paar Jahre mit ihr gemeinsam durch die Gegend gezogen, so als Westfale und als Rheinländerin“. So etwas wie eine „Übergabe“ habe es jedoch nicht gegeben – „und irgendwann war die Kommunikation dann einfach weg“.

War Barbara Kisseler jemand, der Ratschläge gab?

Als Sparringspartner habe sie ihm sofort gefehlt. „Sie war unglaublich schnell im Kopf. Eine Assoziationsmaschine sondergleichen. Ihr fielen zu den meisten Themen mindestens 50 Dinge ein, von denen alle geistreich und mindestens 30 auch noch humoristisch waren.“ Als er nach einem Termin zum ersten Mal der Letzte war, der mit ihr im Raum verblieb, „da durchzuckte mich schon kurz die Frage: Worüber mag sie gesprochen haben, als du früher vor den anderen gegangen bist …?“

Carsten Brosda, ein regelmäßiger und viel respektierter Redner, gehört nun zu denen, die seine Vorgängerin noch immer gelegentlich öffentlich erwähnen. „Man kann sie schön zitieren“, findet er. „Und was wir in Hamburg ja auch erleben: dass Sätze von Maggie Thatcher hier als Barbara-Kisseler-Zitate durchgehen.“ Gemeint ist das hübsche Bonmot, das auch bei der Trauerfeier für Zwischenapplaus sorgte: Wenn Sie in der Politik etwas gesagt haben wollen, wenden Sie sich an einen Mann. Wenn Sie etwas getan haben wollen, wenden Sie sich an eine Frau. – „Wenn sie den Satz in Hamburg gesagt hat, dann ist er jetzt halt von ihr.“ Brosda lächelt. „Das sagt etwas über ihre persönliche Stärke und ihre Prägekraft in der Stadt aus.“

Barbara Kisseler zu beerben kann keine ganz leichte Herausforderung gewesen sein. Hat Carsten Brosda das je als Bürde empfunden, als eine Art von Überhöhung der Person, die vor ihm da war? Er überlegt. Nein, das sei „irritierenderweise gar nicht einschüchternd“ gewesen, gesteht er dann und zuckt kurz mit den Schultern. „Erst kam die Trauerfeier, dann die Eröffnung der Elbphilharmonie, ich hatte gar nicht die Gelegenheit, lange darüber nachzudenken.“ Von den Spekulationen um die Senatorennachfolge habe er „erfreulich wenig“ mitbekommen: „Ich bin schlicht nicht davon ausgegangen, dass ich es werde.“ Die Frage (zu) großer Fußstapfen habe sich deshalb gar nicht gestellt. „Sie war ja schon fast ein Jahr nicht mehr da. Darum habe ich es nie so sehr als ,Erbe‘ verstanden. Es war ein schleichender Prozess. Erst musste ich sie vertreten, und irgendwann war ich einfach Senator.“

War Barbara Kisseler jemand, der Ratschläge gab? Brosda nickt. „Gefragt und ungefragt“, ergänzt er. Und räuspert sich. „Und beide waren gut.“ Ihre Art des „empathischen Zuhörens“ habe er sich abgeguckt. „Häufig sind Sie mit Themen konfrontiert, von denen Sie wissen: Sie haben noch keine Lösung. Sich nicht zu verschließen, sondern zugewandt zu bleiben, das konnte sie meisterlich.“

Vor seinem Hamburger Amt hatte Carsten Brosda lange als Redenschreiber gearbeitet. Offiziell wurde bislang nie bestätigt, dass er auch die Ansprache des Ersten Bürgermeisters für die Trauerfeier von Barbara Kisseler im Schauspielhaus entwarf. „Der Text schrieb sich an einem Tag“, erzählt Brosda nun. Und auch Olaf Scholz, der sonst selten als emotionaler Redner auffällt, hat ihn anders vorgetragen als sonst. Nicht nüchtern und hanseatisch, sondern warmherzig, persönlich und klar. „Das, was ich geschrieben habe, und das, was er sagen wollte, war hier einfach sehr identisch.“

War Brosda froh, dass er die Rede nicht selbst halten musste? Die Antwort des Kultursenators fällt kurz und knapp aus: „Ja.“

Bürgermeister Scholz nennt sie eine Frau „mit Grandezza“

Der, der sie halten musste, empfängt wenige Tage später im Bürgermeisteramtszimmer des Hamburger Rathauses. Hätte man das Bedürfnis, gelegentlich huldvoll vom Balkon zu winken, hier wäre der richtige Ort dafür. Allein der Blick auf die Ahnengalerie beim Gang durch den mächtigen Sandsteinbau bewahre jedoch vor Größenwahn, sagt Olaf Scholz und lacht vergnügt dabei. „Bei vielen Bildern muss ich nachschauen, wie meine Vorgänger überhaupt hießen. Manche von ihnen mögen in ihrer Amtszeit vielleicht furchterregend oder gar verhasst gewesen sein.“ Er wisse tatsächlich nicht einmal, der wievielte Regierungschef er überhaupt sei in der 750-jährigen Hamburger Bürgermeister-Geschichte. Archivare sollen dies, in Zusammenarbeit mit dem Museum für Hamburgische Geschichte, nun auf seinen ausdrücklichen Wunsch klären. Es klingt, aus heutiger Sicht, wie ein Abschluss, als hätte er schon länger damit gerechnet, seinen Hamburger Schreibtisch wieder gegen einen Berliner zu tauschen. Innensenator, Bundesminister für Arbeit und Soziales, SPD-Generalsekretär, seit sieben Jahren Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, demnächst womöglich Finanzminister und Vizekanzler – in 43 SPD-Jahren hat Scholz fast alles erreicht.

Grund zur Demut, sagt Olaf Scholz, liefere ihm dabei nicht allein die beeindruckende Ahnengalerie – sondern auch Schicksale wie das von Barbara Kisseler. „Mir hat ihr Tod einmal mehr gezeigt, dass von heute auf morgen alles vorbei sein kann“, sagt er. An den Krebs, den der Bürgermeister in Anlehnung an den Bestseller von John Green einen „miesen Verräter“ nennt, hat er schon mehrere gute Freunde und politische Weggefährten verloren.

Bei Barbara Kisseler zog sich diese Phase über Monate hin. Scholz respektierte den Wunsch seiner Senatorin, nichts über ihre Krankheit öffentlich werden zu lassen: „Das wollte sie unbedingt.“ Deshalb habe man den Kreis der Eingeweihten bewusst „sehr, sehr eng gehalten“. Barbara Kisseler habe sich immer größte Mühe gegeben, dass man ihr die Krankheit nicht anmerke: „Das war typisch für sie.“

Scholz holte sie aus der Hauptstadt nach Hamburg

Beide lernten sich im Kompetenzteam näher kennen, das der damalige Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier für die Bundestagswahl 2009 zusammenstellt hatte – Scholz gehörte als Arbeitsminister ebenso zum Schattenkabinett wie Barbara Kisseler, damals Chefin der Berliner Senatskanzlei. Zwei Jahre später holte Scholz sie aus der Hauptstadt nach Hamburg: „Ich wusste, dass sie in der Kulturszene erstklassig vernetzt ist.“ Nun sei er selbst dem Thema Kultur „nicht ganz so fern, wie man vielleicht denkt“, sagt der Bürgermeister und lächelt. Vor allem ihr aber sei es natürlich zu verdanken, dass jemand wie Kent Nagano 2015 als Generalmusikdirektor an die Hamburgische Staatsoper gewechselt sei. Und sie habe durchaus ein politisches Vermächtnis hinterlassen, betont er: „Es mag etwas hochgegriffen klingen, aber aus meiner Sicht hat Barbara Kisseler den Staat mit der Kunst versöhnt. Mit ihrer Intellektualität, mit ihrer Persönlichkeit, mit ihrem Verhandlungsgeschick.“

Im Senat habe sie mit ihrem „hintergründigen Witz“ die Diskussionen aufgelockert. Man merkt, das hat Scholz gefallen. Außerhalb sei die Senatorin immer als Verbündete der Kulturszene aufgetreten, obwohl sie genau gewusst habe, dass man nicht jeden Wunsch erfüllen kann: „Sie hat nicht allen alles versprochen und trotzdem ihr Anliegen geteilt.“ Hat sich durch ihr Auftreten und ihren Politikstil auch etwas geändert in der Art, wie Frauen in der Hamburger Politik wahr- und ernst genommen werden? Scholz’ „Ja!“ kommt eindeutig. Denn sie sei deutlich wahrnehmbar als Frau aufgetreten, „mit Grandezza“ – und das habe etwas ausgemacht: „Sie war dabei immer sehr ernsthaft. So wie manche Männer sich vielleicht mit einem Brioni-Anzug bewaffnen“, kleines Lachen, „so hat sie ihre Grandezza ausgestrahlt. Und das passte zur Senatorin.“

Auf die Frage, wann ihm Barbara Kisseler besonders fehle, überlegt Scholz kurz und versucht dann sein Verlustgefühl zu beschreiben: „Es gibt Situationen, wo ich mir genau vorstelle, wie sie jetzt reagieren würde. Dann erscheint sie mir gewissermaßen in meinem Kopf. Das macht mich wehmütig, aber auch fröhlich. Weil sie mir dann so begegnet, wie ich sie in Erinnerung habe.“

Mit Isabella Vértes-Schütter verband sie tiefe Freundschaft

Der Weg zu Isabella Vértes-Schütter führt durch ein enges Treppenhaus in den zweiten Stock des Wohnhauses links neben dem Ernst Deutsch Theater. Die Intendantin der größten deutschen Privatbühne residiert auf gerade einmal zwölf Quadratmetern, ein ovaler dunkler Holztisch nimmt den größten Platz in ihrem Büro ein.

Um über das Thema Vermächtnis zu reden, kann es in der Hamburger Kulturszene kaum einen besseren Ort und eine geeignetere Gesprächspartnerin geben. Als ihr Mann, der Schauspieler und Intendant Friedrich Schütter, im September 1995 an Krebs erkrankte, sagte er ihr im Krankenhaus: „Wenn ich nicht mehr da bin, musst du am nächsten Tag im Theater sein. Sonst schaffst du es nicht.“ Schütter starb an einem Sonntag, am Montag stand seine 41 Jahre jüngere Frau im Ernst Deutsch Theater, um seine Nachfolge anzutreten.

Diese Geschichte ist wichtig, wenn man mit der zierlichen Frau über Barbara Kisseler reden will. Denn auch zwischen ihnen ging es um Vermächtnis und Nachfolge. Vor allem aber um eine tiefe Freundschaft.

„Zwischen uns gab es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick“, sagt Isabella Vértes-Schütter und streift sich das pechschwarze Haar aus der Stirn. Die beiden verband nicht nur die Kultur, sondern auch die Politik. Die Intendantin wurde 2011 für die SPD Mitglied der Bürgerschaft, als Barbara Kisseler in den Senat wechselte. Die Senatorin habe sie sofort beeindruckt, sagt Isabella Vértes-Schütter, „mit ihrer enormen Präsenz, mit ihrer Klarheit, mit ihrem unbedingten Eintreten für die Kultur“.

Die beiden telefonierten oft, saßen nach Vorstellungen mitunter bis tief in die Nacht zusammen. „Barbara hat das Theater geliebt, sie konnte ganz präzise analysieren.“ Sie schickten sich häufig SMS, immer persönlich, tippten nicht nur „lg“ für „liebe Grüße“. Die Intendantin hat, wie übrigens auch Carsten Brosda, keine dieser SMS gelöscht.

Geschenkt haben die Frauen sich in der Regel Bücher. „Ab heute heiße ich Margo“ von Cora Stephan ist eines davon, ein Buch über zwei starke Frauen, das passt.

Am Ende verband die beiden wohl auch die Medizin. Über Barbara Kisselers Erkrankung mag Isabella Vértes-Schütter nicht reden, es wäre für die promovierte Ärztin ein Vertrauensbruch: „Barbara wollte mit ihrer Krankheit nicht in der Öffentlichkeit stehen, das war ihr sehr wichtig. Und ich finde, das sollte man auch nach ihrem Tod ­respektieren.“

Vértes-Schütter wägt jedes Wort ab, wenn sie über die verstorbene Freundin redet, Privates soll unbedingt privat bleiben. Nur: Manchmal verschwimmen die Grenzen. Dass Barbara Kisseler es gern gesehen hätte, dass Isabella Vértes-Schütter ihre Nachfolgerin geworden wäre, war in der Kulturszene ein offenes Geheimnis. „Aber Barbara wusste immer, dass ich mein Theater nicht im Stich lassen kann“, stellt Isabella Vértes-Schütter klar. Das Vermächtnis, das sie vor mehr als zwei Jahrzehnten angetreten hatte, konnte sie nicht einfach aufkündigen.

„Barbara begleitet mich weiter jeden Tag“, sagt sie beim Abschied.

Helga Schuchardt erinnert an Kisselers Frische und Chuzpe

In Fußnähe des Ernst Deutsch Theaters lebt Helga Schuchardt. Ein Gespräch mit ihr, die in diesem Sommer 79 wird, ist immer auch eines mit Inge Volk, ihrer Lebensgefährtin. Oft heißt es „wir“ statt „ich“, man ist sich gegenseitig Gedankenstütze. Auf dem Couchtischchen der gemeinsamen Altbauwohnung auf der Uhlenhorst stehen Becher mit Kräutertee, es ist warm, gemütlich. Schuchardt ist eine Vorgängerin Kisselers. Sechsmal müsste man das „Vor“ aneinanderreihen, so lange ist das schon her. 1983 bis 1987 war sie Kultursenatorin, die FDP hatte sie da bereits verlassen.

Kennengelernt haben die Frauen sich erst in Niedersachsen, wo die parteilose Helga Schuchardt in den 90er-Jahren Ministerin für Wissenschaft und Kultur war – beim wahrscheinlich letzten Bewerbungsgespräch, das Barbara Kisseler führen musste. Damals kam sie aus Düsseldorf und wollte „Ministerialbeamtin Kultur“ werden. Auf alle weiteren Posten wurde sie berufen.

„Sie war vor allem geradeheraus“, erinnert sich Schuchardt und lacht leise, „das war man da vorher nicht so gewöhnt, das war eine richtige Erlösung!“ Ihre Frische, die Chuzpe, das Selbstbewusstsein. „Die Kombi aus männlichem Führungsstil und weiblichem Charme setzte sie sehr dosiert und gezielt ein.“

Helga Schuchardt – kurze, weiße Haare, klarer, schneller Kopf – nimmt einen Schluck Tee. Noch immer ist sie regelmäßig auf Premieren anzutreffen, auch am Schicksal ihrer Nachfolgerin nahm sie nicht nur als stille Beobachterin Anteil. Die Verbindung blieb erhalten. „Es war sicher mehr als eine Bekanntschaft“, so ordnet sie es heute ein, „aber wir waren nicht eng befreundet.“ Geduzt haben beide sich erst, nachdem Helga Schuchardt nicht mehr Ministerin in Niedersachsen war, „da war ich irgendwie pingelig“. Immer mal wieder kam Barbara Kisseler zum Frühstück vorbei – eine Einladung andersherum habe es nicht gegeben. „Sie hat nie nach Hause eingeladen. Auch sonst kaum jemanden, soweit wir wissen“, bestätigt Inge Volk. Auch von der Krankheit habe Barbara Kisseler zunächst nichts erzählt. „Im Januar ihres Todesjahres war sie zuletzt bei uns zu Gast und sagte, so leise, dass wir es zunächst gar nicht hören konnten: Ich werde nicht mehr gesund.“

Schwäche zeigen wollte sie keinesfalls. „Das passte nicht in ihr Selbstbild.“ Schuchardt versteht diesen Wunsch nach Privatsphäre, auch wenn sie selbst es anders handhabt. „In Hamburg wird man unglaublich beobachtet. Dass man in jede Premiere geht, in jedes Museum, immer überall anwesend ist. Man steht derart unter Druck in so einer Großstadt. Das hat manchmal skurrile Auswüchse. Als ich damals hier Kultursenatorin wurde, hatte ich zum Beispiel ein Opern-Abo, 14. Reihe, schöne Plätze. Und da stand nach einer Premiere dann plötzlich in der Zeitung, ich sei nicht da gewesen! Also habe ich mich von da an wohl oder übel in die erste Reihe gesetzt.“ Vier Jahre „und einen Rumpf“ sei sie damals Senatorin in Hamburg gewesen. „Und natürlich bin ich in die Politik gegangen, weil ich die Welt verändern wollte!“ Sie stößt lachend die rechte Faust in die Luft. Tatsächlich sind Schuchardts Personalentscheidungen in die Kulturgeschichte der Stadt eingegangen: Sie war es, die einst Rolf Liebermann zurückholte, Peter Ruzicka als Intendanten der Staatsoper verpflichtete, Jürgen Flimm als Intendanten des Thalia Theaters. Auch Peter Zadek holte sie 1984 ans Schauspielhaus.

Auch sie selbst sei „wohl keine ganz einfache Senatorin“ gewesen, sagt Schuchardt, und Inge Volk, in der Behörde damals ihre Pressereferentin, nickt heftig. „Barbara wollte beides, geliebt werden und als kämpferisch gelten.“ Noch im Frühjahr ihres Todesjahres wurde sie zur Präsidentin des Bühnenvereins gewählt. „Und sie wollte die Elbphilharmonie eröffnen, das war ihr ganz großes Ziel.“ Helga Schuchardt zögert kurz mit der nächsten Einschätzung. „Sie war vielleicht auch zu stolz, während der Krankheit zurückzutreten“, sagt sie dann doch. „Sie wollte das Ziel Elbphilharmonie unbedingt erreichen.“

Der Begriff „Vermächtnis“ ist ihr zu groß. „Aber es bleibt schon was“, nickt sie und lächelt. „Und von Barbara bleibt eindeutig ihre Art.“ Sie habe einen anderen Politikertyp repräsentiert, einen, bei dem man sich gedacht habe: Oh, das gibt’s ja auch! „Zweifelsfrei wirkt das nach. Und es freut mich, dass Carsten Brosda ihr ähnlich ist.“

Der Finanzsenator erzählt, wie sie ihn einmal im Saal übersah

Der Angestellte am Empfang der Behörde für Finanzen am Gänsemarkt bedauert höflich, aber bestimmt: „Für Besucher ist eine Fahrt mit dem Paternoster leider verboten.“ Versicherungsrecht, man möge das verstehen. Also führt der Weg zum Senator unter der Stuckrosette am Haupteingang durch das Treppenhaus.

Auch Hausherr Peter Tschentscher bittet die Besucher zunächst um Verständnis: Sein Büro sei gemessen an der Behördenverordnung zu groß. Aber der Denkmalschutz verhindere einen Umbau zur Norm. Spätestens jetzt bedient Tschentscher jedes Klischee, pingelig bis zur Schmerzgrenze. Diesem schmalen Herrn im korrekten Anzug mit Krawatte, Nickelbrille und bedächtiger Stimme vertraut man gern Hamburgs Vermögen an. Einer, der den Cent nicht verwaltet, sondern röntgt. Und einer, der schon von Amts wegen als Gegenspieler einer Kultursenatorin in ihrem Kampf um Millionen für die schönen und manchmal sperrigen Künste wirken muss.

So kann man sich täuschen.

Denn in der politischen Realität saßen Tschentscher und Barbara Kisseler im Senat direkt nebeneinander. Enge Vertraute, die sich laut Senatsordnung sogar gegenseitig vertraten. „Damit hat Barbara gern kokettiert“, sagt Tschen­tscher. Der Finanzsenator verstünde mehr von Kultur, als er zugebe, habe sie manchmal spöttisch festgestellt. Nicht wissend, dass genau dieser Vertretungsfall dann über Monate eintreten sollte. Als Barbara Kisseler schwer erkrankte, sprach Tschentscher in dieser Zeit im Senat auch in Sachen Kultur.

Wer Tschentscher über die gemeinsame Senatszeit erzählen hört, spürt schnell, dass die beiden mehr verband als die Regierungsbank. Da ist ganz viel Respekt – und vor allem ehrliche Zuneigung. Barbara Kisseler, sagt Tschen­tscher, sei „mit ihrer hochhackigen Art“ nicht nur „Kulturpolitikerin, sondern auch eine toughe Managerin“ gewesen: „Sie war mit allen Wassern gewaschen. Sie wusste genau, wie man sich durchsetzt.“ Etwa, indem man keine Beschlussvorlagen schreibt, sondern lieber die Senatskollegen einlädt, um sich vor Ort ein Bild zu machen, über den maroden Opernfundus zum Beispiel. Barbara Kisseler, sagt Tschentscher, habe genau einkalkuliert, dass man ihr dann ihre Wünsche kaum noch abschlagen kann.

Einmal, erzählt Tschentscher, ohne ins Detail zu gehen, habe sie ihn bei einem Konflikt im Senat wirklich verletzt: „Das hat sie gespürt, sie hat mich dann angerufen und als Entschuldigung zum Tee eingeladen. Sie wollte sich wieder vertragen.“ Unvergessen bleibt für ihn ein Empfang der Handelskammer auf Kampnagel, als er etwas später kam und weit hinten Platz nahm. Kisseler, die ein Grußwort hielt, wähnte ihn nicht im Saal und frotzelte auf der Bühne ungerührt, dass man dem Finanzsenator Manieren beibringen müsste, er könne ja zumindest absagen. Worauf Tschen­tscher ihr sofort einen SMS-Gruß („Ist ja interessant, wie du über mich redest“) schickte – und sich von hinten königlich über ihr verdutztes Gesicht amüsierte.

„Barbara fehlt mir sehr“, sagt Tschentscher und hält eine Weile inne. Ihr mitunter derber Humor, ihre Geburtstagsgrüße, ihre sehr persönlichen Weihnachtskarten. Der promovierte Mediziner zählte zu den wenigen, die den Ernst ihrer Krankheit früh erkannten. Gerade als Arzt weiß Tschentscher um den schmalen Grat zwischen Leben und Tod: „Wenn sich bei Elternabenden manche über Kleinigkeiten aufregen, denke ich oft: Seid doch froh, dass eure Kinder gesund sind.“

Am Ende war für ihn die Todesnachricht auch keine wirkliche Überraschung mehr, über Monate war ihr angestammter Stuhl im Senat schließlich unbesetzt geblieben. Und doch sei ihm der Verlust erst dann klar geworden: „Barbaras Platz war danach anders leer.“

Fassen kann Christine Ebeling diesen Tod noch immer nicht

Ein paar winterliche Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die mannshohen, dreiflügeligen Scheiben auf den Dielenboden. Die Finanzbehörde liegt unmittelbar um die Ecke und doch sehr weit entfernt. Christine Ebeling deutet auf den Heizköper unter dem Fenster: „Genau hier hat Barbara Kisseler unsere Fabrique eröffnet.“

Es war der Abend des 9. März 2016, als die Kultursenatorin im Parterre des Gründerzeithauses im Gängeviertel ihr Grußwort hielt. Christine Ebeling hat die Szenerie vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Graues Kostüm, schwarzer Mantel, gemustertes Tuch – die Senatorin passte mit ihrer Eleganz so gar nicht in die unverputzte Gängeviertel-Welt der Kulturgenossinnen und -genossen. Und doch pries Barbara Kisseler an diesem Abend das Quartier zwischen Valentinskamp und Caffamacherreihe als „gelungenes Beispiel Hamburger Stadtentwicklung“. Am Ende erklärte sie: „Ich bin die Vorsitzende des Fanclubs.“

Christine Ebeling, Sprecherin des Gängeviertels, konnte nicht wissen, dass sie Barbara Kisseler an diesem Abend das letzte Mal sah. Nur engste Vertraute hatte die Senatorin zu diesem Zeitpunkt eingeweiht, dass sie wieder gegen den Krebs kämpft. Gut vier Wochen später musste Barbara Kisseler alle offiziellen Termine absagen.

Fassen kann Christine Ebeling es noch immer nicht: „Wir hatten uns bei jedem Treffen gesagt, dass wir uns unbedingt mal auf einen Wein oder ein Mittagessen treffen müssen, um mal in Ruhe zu reden.“ Stahlkappenschuh – Kunstschmiedin Christine Ebeling nennt ihn ihr wichtigstes Arbeitsutensil – trifft Pumps. Bei Barbara Kisseler, sagt Christine Ebeling, habe man immer das Gefühl gehabt, man kenne sich schon seit Jahren. An diesem 9. März 2016 schloss sich ein Kreis. Denn ihren ersten offiziellen Termin im Amt, einen Tag nach ihrer Ernennung zur Senatorin, hatte Kisseler am 24. März 2011 ebenfalls im Gängeviertel verbracht. Ihren Antrittsbesuch hatte sie für eine Solidaritätsadresse für den Erhalt des historischen Quartiers genutzt: „Es darf nicht sein, dass ein Ort in der Stadt von Künstlern trockengewohnt und dann der Verwertung übergeben wird.“

Knapp sieben Jahre später deutet Christine Ebeling auf eine Denkmal-Plakette, die Kisseler einst an die Außenwand des Speckhauses schraubte. „Wir haben ihr sehr viel zu verdanken. Sie hat im Senat für unsere Anliegen gekämpft“, sagt Ebeling: „Barbara Kisseler hat eine große Ruhe und Selbstgewissheit ausgestrahlt.“ Im positiven Sinne „unaufgeregt“ sei sie gewesen, es konnte sie nichts vom Weg abbringen.

Genau diese Erfahrung helfe ihr jetzt beim weiteren Kampf um das Gängeviertel, seit Jahren verhandelt die Initiative mit der Stadt um die langfristige Sicherung des Projekts, auch für kommende Generationen. Auch dies: ein Vermächtnis. Etwas, das bleibt, wenn jene, die sich eingesetzt haben, lange nicht mehr sind. Für Sprecherin Christine Ebeling bedeutet dieses Ehrenamt vor allem Amt – und wenig Ehre. Natürlich gebe es Momente, in denen sie sich frage, ob die ganze Plackerei sich wirklich lohnt: „Dann denke ich tatsächlich an Barbara Kisseler, sie hat auch immer gekämpft.“

Steinmeier lacht dröhnend auf, als er eine Episode schildert

Welche Spuren ein Politikerleben hinterlässt, hat immer auch mit dem Netzwerk des Einzelnen zu tun. Mit den Gesprächen, die man geführt hat, dem Rat, den man sich geholt oder gegeben hat, dem Einfluss, den man hatte (oder dem man ausgesetzt war), den Erinnerungen, die man geteilt hat. Und so führt eine Recherche auf den Spuren von Barbara Kisseler schlussendlich auch nach Berlin, zum Sitz des höchsten Amtes, das dieses Land zu vergeben hat.

„Wir waren befreundet miteinander“, sagt Frank-Walter Steinmeier, lächelnd, das wohlvertraute dunkle, sozialdemokratische Steinmeier-Kratzen in der Stimme. Und als bräuchte es an dieser Stelle kaum eine andere Erklärung: „Ich weiß nicht, ob Sie ihren Humor mal kennengelernt haben?“

Es ist ein regnerischer Januartag, mitten in der entscheidenden Phase der Sondierungsgespräche zwischen CDU und SPD. Vor dem Hauptportal von Schloss Bellevue rollt ein Mitarbeiter einen nassen roten Teppich vom Vormittagsempfang ein, wenige Schritte und einige schwere Holztüren dahinter sitzt Steinmeier entspannt an einem polierten Holztisch im Gartensalon. Vor sich eine Tasse Kaffee (Porzellan mit Goldrand), ein kleiner Keks-Teller für den Besuch und ein mit der Hand beschriebenes Blatt Papier. Namen, Daten, Buchtitel. Erinnerungsnotizen. Der Bundespräsident hat sich vorbereitet.

Ein Interview mit dem deutschen Staatsoberhaupt ist auch für Hauptstadtjournalisten keine alltägliche Angelegenheit, einem persönlichen Gespräch über Barbara Kisseler aber hatte Steinmeier fast sofort zugestimmt. „Sie war eine beeindruckende Frau“, findet er. Der Blick geht auf das weitläufige und verblüffend grüne Anwesen hinter dem Schloss, bisweilen ist hier ein Fuchs unterwegs.

Kennengelernt hatten sich Kisseler und Steinmeier – wie auch Schuchardt und Kisseler – in Hannover, als Gerhard Schröder dort Ministerpräsident war und Steinmeier sein Büroleiter. „Eine sehr elegante Frau, die man nicht übersehen hat, wenn sie einen Raum betrat“, erinnert sich Steinmeier. Er spricht ruhig, fast schon leise. „Diejenigen, die sie näher kannten, haben sie lieb gewonnen wegen ihrer Herzlichkeit und ihrer Offenheit. Aber sie konnte auch distanziert sein. Sie hat das als Mittel genutzt, um die Hoheit darüber zu bewahren, welchen Menschen sie sich näherte.“ Einmal habe es jemand im freundlichen Duz-Ton versucht: Barbara, schön, dass ich dich hier sehe, du, wollen wir nicht mal einen Kaffee trinken. „Und sie guckt ihn an und sagt trocken: Entschuldigung, ich kann mich jetzt gar nicht an Ihren Namen erinnern.“

Steinmeier lacht dröhnend auf, als er die Episode schildert. „Sie konnte Leuten in einiger Schonungslosigkeit signalisieren, dass sie keine nähere Bekanntschaft wollte. Andere hatten ein sehr enges Verhältnis, was bis in die späteren Jahre hinein getragen hat.“

Parteimitglied war Barbara Kisseler nie, auch wenn sie immer für SPD-geführte Regierungen gearbeitet hat. Steinmeier habe auch nie versucht, sie dazu zu überreden, sagt er. „Ich glaube, sie hat diese Unabhängigkeit für sich gewollt. Sie bestand auf ihrem eigenen Urteil und hatte keine Hemmungen, dies auch mitzuteilen.“ Dass ihm eben das gefiel, ist noch heute deutlich spürbar – und damals wurde es für Steinmeier auch politisch interessant.

Im Frühjahr 2009 bat der damalige Kanzlerkandidat Barbara Kisseler in sein Wahlkampf-Kompetenzteam. „Sie hat gesagt: Wenn du mich fragst, mach ich’s. Ich hätte mir für diese Zeit keine bessere Beraterin wünschen können. Am Ende lag es bestimmt nicht an der kulturpolitischen Performance, dass die Wahl 2009 ausgegangen ist, wie sie ausgegangen ist.“

Zu verdanken habe er Barbara Kisseler aber auch ganz andere Anregungen, „dass sie mir die Augen und Ohren geöffnet hat für eine deutschsprachige Schweizer Literatur zum Beispiel, die ich bis dahin so nicht kannte. Werke von Fritz Zorn, Thomas Hürlimann, Pascal Mercier habe ich über sie kennengelernt. In einer unserer ersten Begegnungen haben wir unsere gemeinsame Vorliebe für Adolf Muschg entdeckt. Kurz danach bekam ich einen Muschg-Band von ihr, den ich noch nicht gelesen hatte. Wenn ich mich richtig erinnere, war es ,Der rote Ritter‘.“ Immer wieder wurden per SMS auch Krimi-Empfehlungen ausgetauscht – für die vielen Reisen. Bewahrt ein Staatsmann solche SMS auf, aus Sentimentalität womöglich? „Nein, ich halte mein SMS-Konto klein, lösche, was erledigt ist.“ Noch so ein kurzes, polterndes Steinmeier-Lachen. Wer Untersuchungsausschüsse hinter sich hat, löscht vermutlich lieber einmal zu viel als einmal zu wenig.

Als er von Kisselers Erkrankung hörte, sei er „geschockt“ gewesen, natürlich, wie viele andere auch, erinnert sich Steinmeier. „Wir haben noch einmal telefoniert. Ich habe ihr noch einmal geschrieben. Und als ich im Sommer 2016 mit Olaf Scholz sprach, gab es sogar Hoffnung, dass sie zurückkommt.“ Sie kam nicht zurück.

Es ist menschlich, dass der Tod jener, die einem nahestehen, zum Nachdenken auch über das eigene Wirken, das eigene Bleiben anregen. Welche Rolle spielt der Begriff „Vermächtnis“ also für jemanden wie Frank-Walter Steinmeier, der sein Leben in der Politik verbracht hat und als Bundespräsident zwangsläufig in den Geschichtsbüchern auftauchen wird? „Ich habe nie mit der Perspektive gelebt, dass ich am Ende meines Lebens oder meiner politischen Biografie ein Vermächtnis hinterlasse. Aber natürlich wünscht man sich, dass man respektiert wird für das, was man tut, und dass Spuren bleiben; dass man nicht ,spurlos‘ aus der Geschichte verschwindet.“

Steinmeier lehnt sich zurück. „Trotzdem: Wenn man in einer politischen Rolle nicht mehr ganz jung im Geschäft ist und Generationen von Politikern hat kommen und gehen sehen, dann überschätzt man auch nicht, was an Erinnerung bleibt. Für die Geschichtsbücher zu arbeiten wäre mir nicht genügend Motivation. Und für Barbara Kisseler war es das auch nicht. Historische Situationen lassen sich nicht künstlich herbeiführen; sie kommen auf einen zu, fordern heraus und verlangen Bewährung. Das gilt im Leben wie in der Politik. Und weil nicht jede Situation historisch ist, kommt es darauf an, dass im Alltag nicht Spannkraft, Ehrgeiz und Kreativität verloren gehen. Barbara Kisseler gehört zu den Menschen, die diszipliniert und hoch konzentriert auch an den vermeintlich kleinen Dingen arbeiten, aus denen zusammen allerdings das große Ganze besteht.“

Barbara Kisselers historische Situation war die nach zahlreichen Querelen und Kostensteigerungen kurz bevorstehende Eröffnung der Elbphilharmonie. Er habe sie anfangs bedauert, dass sie in der Hamburger Landespolitik mehr mit Ausschreibungsvorschriften, Kosten und Bauwirtschaft als mit ihrer eigentlichen Aufgabe, der Kulturpolitik, zu tun gehabt habe, sagt Steinmeier und lächelt.

Dass Kisseler trotz ihrer schweren Erkrankung nicht zurückgetreten ist, darin sind sich ganz unterschiedliche Weggefährten einig, hatte auch mit dem unbedingten, vielleicht auch unvernünftigen Willen zu tun, das wegweisende Gebäude noch zu eröffnen. Dass sie auch diesen Raum spielend ausgefüllt hätte, bestreitet niemand, der sie je hat reden hören. Klug, gebildet, spöttisch, schlagfertig, präsent. Es hat ihr Spaß gemacht, auf einem Podium zu stehen, es hat ihr Spaß gemacht, dabei Spitzen auszuteilen. Auch das, diese Leichtigkeit bei gleichzeitiger Ernsthaftigkeit in der Sache, hat dafür gesorgt, dass dieses Leben, dass ihr Leben nicht „spurlos“ geblieben ist. Sie hat motiviert und herausgefordert, sie hat bewegt und nicht nachgelassen.

Die Frage danach, ob es sich lohnt, kann jeder nur für sich beantworten.

Der Kaffee auf Schloss Bellevue ist getrunken, die Kekse sind nicht angerührt. Das ursprünglich auf eine halbe Stunde angesetzte Gespräch hat fast doppelt so lange gedauert. „Dass etwas bleibt, das ist schon ein sehr menschlicher Wunsch.“ Steinmeier räuspert sich. Er steht schon, als er das sagt. Seinen Kisseler-Erinnerungszettel hält er zusammengerollt in der linken Hand. Draußen regnet es noch immer, im Amtszimmer des Bundespräsidenten wartet schon ein Fernsehteam.

„An was man sich erinnert, ist am Ende vielleicht gar nicht so wichtig“, sagt Steinmeier. „Nicht so wichtig, wie die Tatsache, dass.“