Hamburg . Nackte Brüste und „MeToo“: In Manchester wird ein Gemälde mit barbusigen Nymphen entfernt. Hamburg erlebte ähnliche Debatten.

Halb zieht sie ihn, halb sinkt er hin: nicht Goethes Fischer, sondern ein antiker Sagenjüngling. Auch er wird ein Opfer nasser Erotik, auf dem Gemälde „Hylas und die Nymphen“ des Engländers John William Waterhouse (1849–1917). Zu sehen in der Manchester Art Gallery.

Das Gemälde
Das Gemälde "Hylas und die Nymphen" (1896) von John William Waterhouse im Lager der Manchester Art Gallery. Die Kunstgalerie hat das Gemälde aus dem 19. Jahrhundert aus ihrer Ausstellung entfernt - und damit viel Entrüstung ausgelöst © picture alliance / Britta Schult

Jetzt aber nicht mehr, denn Kuratorin Clare Gannaway hat die nackten Nixen geräuschvoll abgehängt. Mit der ungewöhnlichen Aktion betreibt die Kuratorin nicht Zensur, sondern selber Kunst, in der Disziplin „öffentliche Erregung“. Das Abhängen sei Teil einer eigenen Performance, ließ sie wissen, inspiriert von der Sexismusdebatte unter dem Schlagwort „MeToo“.

Pinnwand für Kommentare

Statt lasziver Blicke, offener Lippen und blanker Busen sieht der Betrachter jetzt an der Museumswand eine kahle Stelle, an die er Kommentare pinnen kann. Bisher sind sie überwiegend kritisch: „Ich habe Angst, dass wir nur noch das zeigen, was akzeptabel ist“, schreibt einer in noch milder Auflehnung gegen den heraufziehenden Bildersturm.

Zettelchen mit Kommentaren an der Stelle, an der das Gemälde
Zettelchen mit Kommentaren an der Stelle, an der das Gemälde "Hylas und die Nymphen" (1896) von John William Waterhouse in der Manchester Art Gallery ausgestellt war. © dpa

Öffentliche Erregung ist leicht zu starten, schwer zu steuern und kaum zu stoppen, denn wie Phosphor brennt sie umso stärker, je mehr Löschwasser sich auf sie ergießt.

Ist das Kunst oder kann das weg?

Die Kunst der öffentlichen Erregung aber liefert Stoff für eine gärige Gesellschaft. Das Ferment wirkt am gründlichsten, wenn der Geruch von altem Sauerteig in gerümpfte Nasen steigt. Die öffentliche Meinung in fruchtbare Wallung zu bringen ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die viel manipulatives Geschick erfordert. In Deutschland liegt der Motor dieses erzieherischen Bestrebens in der jetzt 50 Jahre alten Tradition der Studentenrevolte, deren gestalterische Schöpfungen der Volksspott gern mit der Frage glossiert: Ist das Kunst oder kann das weg? An dieser Frage schieden sich in Hamburg die Geister immer besonders scharf. Denn hier waltet seit eh und je ein großbürgerliches Mäzenatentum im Sinne des Ehrbaren Kaufmanns, der gern erkennen und verstehen möchte, wofür er zahlt.

Widerspruch einer neuen Zeit

Hier erschien aber auch zum ersten Mal in der Öffentlichkeit der Spruch „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“, mit dem die neuen Gesellschaftsveränderer Sauerteig durch Sauerstoff ersetzen wollten. Besonders erbittert stritten Erneuerer und Bewahrer im öffentlichen Raum, etwa am Dammtor: Das Gefallenendenkmal des 76. Infanterieregiments, aufgestellt 1936, forderte mit der Inschrift „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ den Widerspruch einer neuen Zeit heraus.

Aus dieser Richtung stammte auch das, was Joseph Beuys oder „Bauhaus“-Professor Fritz Rahmann für diese Stadt erdachten – aber nicht auf die Gunst von Politik und Publikum stieß. Im öffentlichen Raum bewegten sich immer auch die Provokationen des Theaterregisseurs Peter Zadek. Wie er seine Stücke inszenierte, war die eine Sache. Eine andere war, mit welchen Mitteln er auf seine Inszenierungen aufmerksam machte. Und da kannte er keine Scham, was ihm regelmäßig die bezweckten Reaktionen beschwerte. Die Kunst der Auf- und Erregung will eben auch gelernt sein.

Umstrittene Projekte in Hamburg:

Ein soziales Programm aus Gold

"Kunst muss auch nerven und Streit verursachen“, sagt Bettina Steinbrügge aus der Kunstkommission der Kulturbehörde. Auf der Veddel ist das im Frühjahr 2017 voll gelungen.

Der Widerstand gegen das Projekt des Künstlers Boran Burchhardt, 300 Quadratmeter Hauswand an der Veddeler Brückenstraße mit Goldfarbe für 85.000 Euro anzustreichen, kommt von allen Seiten. „Kunst soll ja vielleicht auch provozieren“, sagt Sabine Glawe vom Bund der Steuerzahler. „Aber mit dieser Vergoldung wird höchstens der Steuerzahler provoziert!“

Teurer Spaß: Künstler Boran Burchardt vergoldete die Fassade auf der Veddel
Teurer Spaß: Künstler Boran Burchardt vergoldete die Fassade auf der Veddel © HA | Klaus Bodig

„Die Menschen dort haben es schwer“, sagt Grünen-Politiker Michael Osterburg. „Jetzt müssen die Leute auf dem Weg zur Arbeit auf ein vergoldetes Haus schauen.“„Die Beachtung, die uns jetzt zuteilwird, ist durchweg negativ und stigmatisiert die Menschen auf der Veddel“, sagt SPD-Politiker Klaus Lübke. Besonders sauer stößt den Kritikern auf, dass Burchhardt selbst in der Kunstkommission sitzt, die das Projekt beschloss.

Andere lassen Taten sprechen und werfen Farbbeutel auf die missliebige Midaswand. Hausbewohner fordern per Plakat: „Schmier dein Gold woanders hin!“ Burchhardt ist als Stipendiat der Saga-„Stiftung Nachbarschaft“ verpflichtet, die Bewohner „in einem kreativen Prozess aktiv anzusprechen und einzubinden“. An seiner Goldwand ist davon wenig zu hören. Im Gegenteil, der Meister gibt seinen Kritikern ordentlich Saures. „Wer bei einem Kunstwerk nur auf das Geld schaut, ist ein Stück weit verblendet“, sagt er. Die Vergoldung habe der Veddel „mehr Aufmerksamkeit eingebracht, als es ein soziales Projekt erreichen könnte!“

Die Arbeit mit der goldenen Rolle ist keine Kunst, aber Künstler sind heute eben nicht nur Künstler. Sie sind auch Sozialarbeiter, Kommunikatoren, Organisatoren sozialer Prozesse, Flüchtlingsaktivisten und manchmal sogar Brunnenbauer in Afrika. So aber ist die Kunst bald nicht mehr ein unwiderstehliches Ferment gesellschaftlicher Gärung, sondern nur noch ein wohlgeordnetes Sozialprogramm. Für fortschrittförderliche Erregung bleiben dann wieder nur die drei Klassiker der modernen Freizeitgestaltung im öffentlichen Raum: Bundesliga, Rockkonzert und Demo.

Die hängenden Gummi-Enten von St. Pauli

Die Erregung ist groß, das Meinungsbild klar, die Chance vertan. Dabei hat der weltweit renommierte Kitschveredler Jeff ­Koons sich für Hamburg etwas nachhaltig Neues einfallen lassen: Ein 110 Meter hoher Portalkran mit Schwimmfiguren aus Gummi wie für Riesenkinder soll die Reeperbahn ins Zentrum der modernen Kunstszene schießen.

Gitterkonstruktion in Warnwesten-Orange, Gummi-Entchen in Quietschbunt, dazwischen der schwarze Schnurrbart eines Zirkus-Impresarios: Der weltweit renommierte Pionier der „Einführung von Banalität/Alltäglichkeit“ in die Hochkultur zeigt 2003 auch in Hamburg, warum er einer der teuersten lebenden Künstler ist.

Für seine Edelstahlskulpturen sind stets Millionen Dollar fällig. Die Spielbudenplatz-Idee ist ein 100.000-Euro-Schnäppchen. Doch die Sache hat einen Haken: Koons kommt über Bausenator Mario Mettbach. Der Neu-Politiker wiederum stammt von der Schill-Partei und hat, wie böse Zungen sagen, zuvor „bei der Bundeswehr Socken gezählt“.

„Das wird ein Leuchtfeuer, ein Symbol für Hamburg wie der Eiffelturm in Paris oder die Akropolis in Athen“, lobt sich der Künstler selbst. Doch, so schreibt das Abendblatt damals: „Hamburg schäumte, eine Wutwelle brach los!“

Die Freie Akademie der Künste nennt die Pläne „hochgepustete Banalitäten“. Die „Zeit“ sieht ein „Monument der Verblödung“. Als 97 Prozent der Hamburger die Koons-Kräne ablehnen, stoppt Mettbach das Projekt wegen „nicht vorhandener Akzeptanz“.

Manche finden das schade. „Die Idee, einen großen Künstler zu beauftragen, war gut, sie wurde nur schlecht umgesetzt“, sagt Schmidts-Tivoli-Gründer Norbert Aust. „Statt sich mit Koons’ Idee zu befassen, hat Hamburg über Eiszapfen diskutiert, die von den Kränen herunterfallen könnten.“

Bio-Bratling statt großer Wurf

Das Grillen dauert zwei Tage, der Flug zwei Sekunden. Das Kunstwerk sieht wie ein Kuhfladen aus und duftet auch so.

Die eine Hälfte der 800 Zuschauer sind Medienleute mit Kameras. Die andere Hälfte sind Privatleute mit Kinderwagen, Hunden und Handykameras. Für die Dokumentation des Kunstwerks ist vorgesorgt.

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© picture-alliance / dpa

Auf der gusseisernen Platte eines improvisierten Grillkohleofens dampft eine drei Meter breite, 600 Kilo schwere Riesenbulette aus Grünkern, Bio-Eiern, Semmeln und Elbwasser.

Daneben montieren die Mitglieder der Künstlergruppe Wuuul, übernächtigt und unrasiert, runde Betongegen­gewichte an ein zehn Meter hohes ­Holzgerüst. Der Katapult soll die ökologisch unbedenkliche Masse in die Elbe schleudern.

Die Aktionskünstler möchten mit dem Beitrag zum internationalen Kunstfestival „Artgenda 2002“ die Diskussion über Sinn und Unsinn moderner Kunst anregen. Und, unter dem Motto „Wir wollen Massen bewegen“, das „Nachdenken über die Wegwerfgesellschaft“ fördern.

Die erhoffte öffentliche Erregung liefert die Politik. „Mit diesem Riesenklops hat uns der rot-grüne Senat ein Riesen-Kuckucksei ins Nest gelegt“, schimpft der FDP-Fraktionschef. Sein CDU-Kollege empört sich über „eine bedauerliche Aktion, eine unverantwortliche Verschwendung von Steuergeld“. Der damalige Innensenator Ronald Schill tönt: „Ich stoppe den Schwachsinn!“

Später stellt sich allerdings heraus: Die 10.000 Euro für den Bio-Bratling wurden bewilligt, als die Parteien der drei Herren schon selbst an der Regierung waren.

Auch die Aktion wird zum Flop. Die Eisenplatte bricht, und die Künstler müssen die übel riechende Pampe mit den Händen auf ein Holzquadrat am Katapult schaufeln. Ein Auto zieht an einem Seil, das den Arm der Riesenschleuder spannt. Der Arm zerbricht zwar ebenfalls, schleudert die Grünkernreste aber immerhin 25 Meter weit, bis sie als Biomüll in der Elbe versinken. Das war’s.

Schiffbruch mit dem "Floß der Medusa"

"Das Floß der Medusa“ erzählt die grausige Geschichte eines Schiffbruchs im Jahr 1816. Die französische Fregatte „Medusa“ läuft auf der Reise zum Senegal weit vor der Küste auf Grund. Der Kapitän lässt ein Floß aus Masten und Rahen bauen. 149 Menschen treiben darauf über den Atlantik. Die letzten zehn überleben nur, indem sie die Toten verzehren.

1967 sollen der frühere Intendant Ernst Schnabel und der jungberühmte Komponist Hans Werner Henze für den NDR aus der Kannibalen-Story ein Oratorium machen. Öffentliche Erregung ist dabei höchstwillkommen: Schon zur Zeit der Tragödie hat ein Bericht über das „unmenschliche Verhalten von Kapitän, Oberschicht und Geistlichkeit“ in Hamburg „revolutionäre Stimmungen“ geweckt.

Solche liegen auch jetzt in der Luft: Im Oktober 1967 wird das Revolutionsidol Che Guevara in Bolivien erschossen. Seither prangt sein Porträt auf Millionen Postern, Fahnen und T-Shirts.

Um Ostern 1968 fällt dem NDR ein „politischer Sinneswandel“ auf: Henze will sein Werk Che Guevara widmen. Die „Hörzu“ urteilt prompt: „Musik für Che“. Der Komponist erklärt, er freue sich, wenn „die ziemlich isolierte und vereinsamte und allein gelassene Jugend eine Art Ermutigung“ bekomme. Zur Aufführung in Planten un Blomen wird diese Jugend dann als gut gekleidetes „APO-Establishment“ aktiv:

Die Berliner Projektgruppe „Kultur und Revolution“ des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes protestiert gegen ein „bourgeoises Publikum“ und eine „kapitalistische Kulturindustrie“, die „revolutionäre Kunst“ verhindern wolle.

Der Hamburger Arbeitskreis Sozialistischer Musikstudenten fordert die „Anwesenden“ auf, gemeinsam „neue Modelle der Musikausübung“ zu diskutieren.

Dann stürmen Studenten die Bühne mit einer roten Fahne. Vize-Intendant Ludwig Freiherr von Hammerstein-Equord entfernt sie. Die Polizei stürzt sich ins Handgemenge. Autor Schnabel wird verletzt und abgeführt. Angefeuert von Henze skandieren die Studenten „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!“. Die Uraufführung fällt aus. Die Erregung hat über die Kunst gesiegt.

Schock am Deutschen Schauspielhaus

Die „Zeit“ bringt es 1987 im Detail auf den Punkt: „Von allen Litfaßsäulen der Hansestadt und von den Werbeflächen in den U-Bahn-Stationen lockt (?) droht (?) das von Gottfried Helnwein, dem Wiener Meister des porentiefen Realismus, geschaffene Plakat, auf dem der Darsteller des Andi mit grimassierendem Gesicht und einer von allen Textilien befreiten, ins Bild gereckten Hinterfront den Betrachter grüßt.“ Der kunstentblößte Körperteil gehört dem Schauspieler Uwe Bohm. Die tragische Story ist typisch für die Zeit: Trinkende Jugendliche randalieren nachts auf der Straße. Ein Tabakhändler gerät in Wut, schießt auf die Gruppe und trifft den 16-jährigen Andi tödlich.

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Wie daraus ein Musical werden sollte, bleibt das Geheimnis von Starregisseur Peter Zadek. Die „Zeit“ attestiert dem faden Werk „intellektuelle Dürftigkeit, ästhetische Armut und schauspielerische Schlichtheit“: Mit „Andi“ sei endgültig das „theatralische Nullwachstum erreicht“.

Umso lauter rührt das Deutsche Schauspielhaus die Trommel. Am Eingang drücken Helfer jedem Besucher einen Zettel in die Hand: „,Andi‘ ist ein Rock-Musical für Jugendliche und kein Theaterstück für Menschen mit zarten Nerven!“ Die Intendanz sorgt sich listig um „herzinfarktgeschädigte Personen“ und „solche mit vorgeschädigtem Innenohr“. Noch mehr Wirkung erhofft sich Zadek von dem provokativen Plakat. „Das ganze Schauspielhaus war erst von meinem Entwurf geschockt“, erinnert sich Helnwein, der heute in Los Angeles lebt. „Nach einiger Zeit hat man sich aber dann dafür begeistert.“

Die Mutter des getöteten Jungen ist empört und will das Theater verklagen, doch ein Anwalt rät ihr wegen mangelnder Erfolgsaussichten ab. Generalmanager Ulrich Schwab denkt wie zum Hohn öffentlich darüber nach, ob er „den Hintern mit einem Kreuzchen überkleben“ solle, „das aber alles sehen lässt“. Der zeitweilig erhöhte Erregungszustand der Öffentlichkeit sinkt bald wieder ab. Zum Schluss bleibt von der pietätlosen Entblößung des toten Jungen nur ein schaler Witz übrig: Zadek, mit den Hamburgern seit Langem auf Kriegsfuß, habe mit dem Plakat nach Landesbrauch „Mors, Mors“ sagen wollen.

Was sich Berlin und Venedig nicht trauten

Der Biennale-Chef in Venedig bekommt im letzten Moment kalte Füße. Er sagt verdächtig kurzfristig per E-Mail ab. Begründung: die „politische Natur des Projekts“. Es folgen hitzige Diskussionen. Auch in Berlin haben sie die Hosen voll. Viele Muslime leben in der Stadt. Doch was sollten die eigentlich dagegen haben?

Zum Glück hat Hamburgs Kunsthallen-Chef Hubertus Gaßner die zündende Idee: Er plant eine Hommage für den Russen Kasimir Malewitsch („Das schwarze Quadrat“). Ein Würfel im Stil der Kaaba passe prima dazu. „Das Kunstwerk soll keine Provokation sein, sondern das Gegenteil: ein temporäres Mahnmal der Toleranz“, sagt Gaßner. Also baut Gregor Schneider seinen 13 Meter hohen Stoffwürfel auf das Plateau zwischen Kunsthalle und Museum der Gegenwart und nennt ihn „Cube Hamburg“. Muslim-Funktionäre werden eingeladen und wundern sich: Darstellungen der Kaaba gebe es doch in Hülle und Fülle! Sie fühlen sich sogar „gebauchpinselt“. Nix mit öffentlicher Erregung, aber wäre das heute auch noch so?