Hamburg. Am 15. Februar ist internationaler Kinderkrebstag. Wir haben die kleinen Patienten, ihre Eltern und ihre Betreuer am UKE besucht.

Was früher die Ritterburgen waren, ist heute die Klinik und Poliklinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. An keinem anderen Ort trifft man so viel Mut und Tapferkeit auf einmal. Elsa zum Beispiel. Zwei Jahre alt. Ein sehr süßes Mädchen aus Lurup, das auf einem Bobbycar vorbeirollt. Sie lacht. Ihre Mutter auch. Dabei drehen sich alle ihre Gedanken nur um drei furchteinflößende Buchstaben: ALL. Die Abkürzung steht für Akute Lymphatische Leukämie, die häufigste Form von Leukämie im Kindesalter.

Der Albtraum der Familie beginnt im November: Elsa knickt in der Kita um. An sich nicht schlimm, aber irgendwie will sie danach nicht mehr richtig laufen. Ständig sagt sie: „Bein tut weh!“ In seinem kurzen Leben ist das Mädchen bis dahin immer hart im Nehmen gewesen, eines von denen, die lieber zu schnell rennen als sich nicht weh zu tun. Doch plötzlich nur noch: „Auf den Arm.“ Elsa bekommt Fieber, der Kinderarzt diagnostiziert eine Bronchitis.

Nein, etwas stimmt nicht, weiß ihre Mama Leona Sarau. Jede Mutter erhält mit der Geburt ihres Kindes einen unsichtbaren Professorentitel in Medizin, kein Studierter wird je besser wissen, wie es einem Kind geht als seine Mutter.

Leona Sarau drängt zur Blutuntersuchung, und am 12. Dezember 2017 bestätigen sich ihre schlimmsten Befürchtungen: Leukämie. „Das Datum werde ich nie vergessen, es hat unser ganzes Leben verändert“, sagt die 25-Jährige. Sie trägt ein blaues Kapuzenpulli-Kleid und eine Last auf ihrem Herzen, Milliarden Tonnen schwer mindestens, so genau weiß niemand, was ein Menschenleben wiegt, und gegen die Angst hilft keine Ritterrüstung.

Die Kinder machen ihren Eltern Mut

Aber Hoffnung, die hilft, und von der haben Elsas Eltern sehr viel: „Sie wird gesund werden, ganz sicher,“ sagt Leona Sarau. Woher nimmt sie ihre Zuversicht? „Meine Tochter gibt mir Mut, trotz allem ist sie so gut drauf, selbst wenn sie an einigen Tagen so schwach ist, dass sie kaum mehr auf das Sofa klettern kann. Dann erwischt uns die Krankheit mit voller Wucht.“

Sarau ist als Erzieherin an einer integrativen Kita angestellt, doch solange ihre Tochter eine Chemotherapie bekommt, kann sie wegen der Ansteckungsgefahr nicht arbeiten. Krebskranke Kinder sind häufig für mehrere Monate isoliert, nur wenige Menschen dürfen sie besuchen.

Einzelzimmer mit Luftschutzfiltern

Es gibt Einzelzimmer mit speziellen Luftschutzfiltern, die bei einigen Patienten, zum Beispiel auf der Station für Knochenmarktransplantationen, nötig sind, und einen extra Spielplatz für die krebskranken Kinder. Ihr Immunsystem ist häufig zu angegriffen, um Infekte abzuwehren. Auch Elsa bekam am Wochenende auf einmal die Augen nicht mehr auf, zu schwach, jetzt erhält sie Flüssigkeit durch einen Zugang an ihrem Bauch.

Ständig zieht die Zweijährige eine Apparatur mit Medikamenten hinter sich her, beim Spielen an der Werkbank im Elternzimmer, beim Reiten auf dem Schaukelpferd, beim Bobbycar fahren. Den fahrbaren Medizinständer hat die Familie Otti getauft. Wen man beim Namen kennt, vor dem fürchtet man sich nicht. „Dreh dich nicht so schnell, Elsa, du musst auf Otti warten,“ sagt Leona Sarau. Ja, die Situation sei schwierig, gibt sie zu und muss schlucken, aber irgendwann ist sie vorbei und Elsa wieder gesund.

Ein Happy-End

Elsa, wie die berühmte Disney-Prinzessin, die lange isoliert lebte. Doch am Ende erlebt das Mädchen im Film ein Happy End, so wie 80 Prozent aller Patienten hier, in der beinharten Realität.

Von den etwa 600 Kindern, die im Kinderkrebs-Zentrum am UKE pro Jahr stationär und ambulant behandelt werden, gelten die meisten nach einigen Jahren als geheilt. Anfang der 70er-Jahre sah das noch ganz anders aus, da schafften es nur 20 Prozent der Kinder. Die Überlebensrate ist seitdem durch eine bessere Kombination und Weiterentwicklung verschiedener Medikamente stark gestiegen, doch immer noch stellt Krebs nach Unfällen die häufigste Todesursache bei Kindern dar.

So soll es auf keinen Fall bleiben, sagt Professor Stefan Rutkowski, Direktor der Klinik und Poliklinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie: „In den nächsten fünf bis 20 Jahren wollen wir möglichst eine Überlebensrate von 100 Prozent erreichen.“

Außerdem gelte es, die zahlreichen Nebenwirkungen der Erkrankung weiter zu minimieren, Spätfolgen wie Hörstörungen, Einschränkungen der Intelligenz oder Unfruchtbarkeit durch schonendere und besser angepasste (im Fachjargon „risikoadaptierte“) Therapien auszuschließen. „Überleben ist das eine, aber viele Kinder zahlen einen hohen Preis“, sagt Rutkowski. Also lautet seine Maxime: forschen, forschen, forschen.

Zehn Prozent sind erblich bedingt

Ohne gezielte Forschung im Labor und klinische Studien seien weitere Erfolge undenkbar, doch leider zeigen die Pharmaunternehmen bislang nur wenig Interesse daran. Krebs bei Erwachsenen wurde schon ziemlich gut erforscht, durch die hohe Zahl der Betroffenen lässt sich in dem Bereich viel Geld mit den Medikamenten verdienen. Doch Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen unterscheiden sich grundlegend von denen der Erwachsenen.

So kommen zum Beispiel überwiegend Krebsarten vor, die man bei Erwachsenen nur selten findet. Die Forschungsergebnisse und Studien sind also keineswegs übertragbar. Außerdem: Während bei Erwachsenen Umwelteinflüsse wie etwa starkes Rauchen eine Rolle spielen können, weiß man bei Kindern die Ursache für die Erkrankung meist nicht. „Zehn Prozent sind erblich bedingt, 90 Prozent sind letztlich noch unklar und gewissermaßen Schicksal,“ sagt Rutkowski.

Der 52-Jährige sieht aus wie jemand, dem man das Kostbarste, das man hat, das eigene Kind, anvertraut. Milde irgendwie, vertrauenswürdig.

Doch mit Sympathie allein sind Todkranke nicht zu retten, weshalb es seit 2006 das Forschungsinstitut Kinderkrebs-Zentrum Hamburg am UKE gibt. Das Institut wird weder vom UKE noch von Krankenkassen, Pharmafirmen oder der öffentlichen Hand finanziert, sondern wird von der Fördergemeinschaft Kinderkrebs-Zentrum Hamburg e.V. betrieben.

Verein von Familien

Dieser gemeinnützige Verein wurde 1975 von betroffenen Familien krebskranker Kinder gegründet und sammelt Spenden, um eine optimale medizinische und psychosoziale Patientenversorgung zu erreichen, um bedürftigen Familien zu helfen und eben wissenschaftliche Arbeit zu unterstützen. Um es auf den Punkt zu bringen: Ohne die Spender gäbe es weniger medizinischen Fortschritt. Ohne Geld keine Zukunft. Niemals eine Aussicht auf eine 100-prozentige Überlebensrate.

Zur Zeit konzentrieren sich die Mediziner am Forschungsinstitut auf die Untersuchung von Leukämien und Hirntumoren, auf Neuroblastome (unreife Tumore des Nervensystems, die fast ausschließlich bei Kindern auftreten), auf grundlegende Fragen der Krebsentstehung und auf die Optimierung der Stammzelltransplantation, einer wichtigen Behandlungsmethode im Kampf gegen die Krebserkrankung. „Ohne die Fördergemeinschaft wäre das alles unmöglich“, sagt Professor Rutkowski.

Manche Freundschaft hier endet auf dem Friedhof

Der Verein unterstützt nicht nur mit Geld, sondern auch mit psychologischer und sozialer Hilfe. So gibt es beispielsweise in regelmäßigen Abständen Elternabende auf der Station. Bei Käse und Wein können sich die Betroffenen austauschen.

Viele Freundschaften sind auf diese Weise entstanden, auch zwischen den Kindern, manche endeten auf dem Friedhof. Das klingt so grausam wie es ist. Ein Grund dafür, dass die Kleinen, die hier behandelt werden müssen, oftmals viel reifer sind als ihre Altersgenossen. Was im Leben zählt, welche Prioritäten man setzt, sie mussten es zu früh lernen. „Viele Kinder, die ihre Krankheit besiegt haben, kennen Mitpatienten, die verstorben sind. Das schafft einen anderen, viel stärkeren Charakter“, erklärt Rutkowski.

Der Arzt hat in seinen neun Jahren an der Klinik leider auch schon viele Familien an der Last zerbrechen gesehen. Nicht jede Ehe hält die Belastung aus. Zu den Sorgen um das Kind kommen manchmal Geldsorgen, weil ein Elternteil nicht mehr arbeiten kann, sondern rund um die Uhr für das Kind da sein muss. Die Kleinen gehen im Allgemeinen besser mit der Erkrankung um als die Großen. „Kinder haben mehr Kraft als ihre Eltern. In einem Moment übergeben sie sich, im nächsten gehen sie wieder spielen. Kinder wollen unbedingt leben. Davon hält sie nichts ab. Sie leben mehr im Moment als wir Erwachsenen, die sich in ihren Sorgen verfangen.“

Erneut an Krebs erkrankt

Verständlicherweise. Selbst wenn der Professor den meisten Eltern gute Heilungschancen verspricht, sicher sein können sie nicht. Und zwar nie. Früher galt die Regel, wer fünf Jahre gesund bleibt, der hat den Krebs besiegt. Doch diese Krankheit spuckt dem Optimismus häufig in die Suppe. Je mehr Zeit verstreicht, desto besser, erklärt Rutkowski, „doch vollständige Entwarnung gibt es niemals“.

Ahmed Baccar weiß das leider zu genau. Sein Sohn Florian hatte bereits als Baby eine Krebserkrankung. Acht Jahre lang war er gesund, nun ist er erneut an Krebs erkrankt. Der Neunjährige sitzt im Rollstuhl, er kann nicht laufen, weil seine Knie sich wahrscheinlich aufgrund der Chemotherapie entzündet haben. Er lächelt schüchtern, sein Vater klopft ihm auf die Schulter. „Florian, du bist ein echter Kämpfer!“ Dann dreht er sich zur Seite, damit das Kind seine feuchten Augen nicht sieht. „Wenn ich weine, dann nur alleine. Hier schauen wir alle ausschließlich nach vorne.“

Seit der Diagnose hängt ein Damoklesschwert über Florian

Bis 17 Uhr bleibt der Vater bei seinem Sohn im Krankenhaus, dann übernimmt die Mutter nach ihrem Feierabend, und Ahmed Baccar fährt von Eppendorf aus zu seiner Arbeit als Kellner in Norderstedt. Zu Hause passen derweil die Nachbarn auf Florians fünfjährige Schwester auf. Lange, anstrengende Tage für die ganze Familie.

Um ein Stück Lebensfreude und Leichtigkeit zurück in den Alltag von Patienten und Angehörigen zu bringen, wird auf der Station – abermals aus Spendenmitteln der Fördergemeinschaft finanziert – sowohl Musik- als auch Kunsttherapie angeboten.

Lieder und Bilder können Brücken sein. Wenn die Worte für Angst und Wut fehlen, dann wirkt ein Schlagzeug manchmal Wunder, um sich auszudrücken. Florian nimmt die Sticks begeistert in die Hand und legt los, der Musiktherapeut Gerhard Kappelhoff spielt dazu E-Gitarre und singt zur Melodie von „Wer hat die Kokosnuss geklaut?“: „… die ganze Klinikbande brüllt: Wer hat das Röntgenbild, wer hat das Röntgenbild, wer hat das Röntgenbild geklaut?“

Wie eine Glückspille

Die beiden geben richtig Gas, und Florian verneigt sich nach der Show stolz vor dem Publikum, seinem Papa und einer Schwester. Großer Applaus! Zum ersten Mal seit Tagen verzieht sich das Damoklesschwert, das seit der Dia­gnose über Florian zu hängen scheint. „Der Schock und die Angst frieren bei vielen Familien die Interaktion ein. Wir nutzen die Musik als Medium. Im Klinikalltag widerfährt den Kleinen so viel, in meiner Musikstunde sind sie selbst kreativ“, sagt der Therapeut.

Der 64-Jährige wirkt wie eine Glückspille auf die Kinder. Wer sein Zimmer nicht verlassen kann, zu dem kommt Kappelhoff mit einem mobilen Musikwagen. Ukulelen, Rasseln, Schellen, Trommeln – ein Rollwagen voller Überraschungen, die Kleinen greifen begeistert zu. Endlich mal nicht Blutabnehmen, MRT, Ultraschall, Zugänge legen. Seit 20 Jahren muntert Kappelhoff die kranken Kinder auf. Vor Kurzem traf er einen Jugendlichen, der vor Jahren auf der Klinik und Poliklinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie im Koma lag.

Kappelhoff setzte sich damals jeden Tag an das Bett des Jungen und spielte ihm spezielle Klänge vor. „Mensch, Gerd! Du bist es!“, sagte der Jugendliche begeistert. „An meine Krebserkrankung und an meinen Stationsaufenthalt kann ich mich gar nicht erinnern, aber deine Musik, die werde ich nie vergessen.“

Was ist die Fördergemeinschaft?

Die Fördergemeinschaft Kinderkrebs-Zentrum Hamburg e.V. unterstützt die Klinik und Poliklinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie am UKE. Der gemeinnützige Verein wurde 1975 von betroffenen Eltern krebskranker Kinder gegründet. Am Forschungsinstitut werden die molekularen Grundlagen der Krebsentstehung im Kindesalter erforscht, um eine patientenspezifischere Diagnostik, neue gezielte Therapieansätze und verringerte Nebenwirkungen zu ermöglichen.

„Knack den Krebs“ ist eine Initiative der Fördergemeinschaft, mit der das schwierige Thema Krebs bei Kindern enttabuisiert werden soll.

Weitere Informationen unter www.kinderkrebs-hamburg.de und www.kinderkrebs-forschung.de

Spendenkonto: Hamburger Sparkasse, IBAN: DE03 2005 0550 1241 1333 11, BIC HASPDEHHXXX