Hamburg. Es geht um einen Schaden in Höhe von 141.000 Euro. Hamburger Staatsanwaltschaft ermittelt gegen 78 Beschuldigte.

Sie fälschten in Massen Dokumente und begingen damit Betrug mit Kindergeld im großen Stil: Mit unberechtigt erlangten Zahlungen haben etliche Menschen bei der Familienkasse in Hamburg Beträge im sechsstelligen Bereich abgezockt. Jetzt sind die Verdächtigen im Visier der Staatsanwaltschaft, die wegen organisierten Bezugs von Kindergeld ermittelt. Es gab auch Durchsuchungen in 43 Wohnungen und Büros in ganz Hamburg, an denen 90 Beamte der Steuerfahndung und 50 Beamte des Landeskriminalamts teilnahmen.

„Wir führen Ermittlungsverfahren gegen 78 Beschuldigte“, sagte die Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft, Nana Frombach, auf Abendblatt-Anfrage. Bei dem Betrug ist nach bisherigen Ermittlungen ein Schaden von 141.000 Euro entstanden, in weiteren Anträgen war versucht worden, weitere insgesamt 283.000 Euro zu Unrecht zu erzielen.

Gefälschte Schreiben von Betrieben

„Allen Verfahren liegt zugrunde, dass übereinstimmend rückwirkend für mehrere Jahre, überwiegend für drei bis vier Jahre, für volljährige Kinder Kindergeld unter Berufung auf deren fehlende Erwerbstätigkeit beantragt worden ist“, so Frombach. Dabei sind seit dem Jahr 2015 zum Beleg des fehlenden Einkommens vermehrt gefälschte Schreiben von Betrieben vorgelegt worden, bei denen sich die vermeintlich Arbeitssuchenden angeblich beworben und von ihnen eine „Absage“ erhalten hatten.

„Die augenfälligen Übereinstimmungen der Belege, aber auch die Art der Antragstellung legen nahe, dass es sich um ein modellhaftes Vorgehen mit Unterstützung bisher unbekannter Dritter handelt“, sagte Oberstaatsanwältin Frombach weiter. Die Staatsanwaltschaft versuche, die Hintergründe weiter aufzuklären „und Hinweise darauf zu finden, ob das Ganze organisiert abgelaufen ist. Die Ermittlungen dauern an“.

Geld rückwirkend beantragt

Da der Bezug von Kindergeld im Einkommensteuergesetz geregelt ist, ermittelt die Anklagebehörde gegen die Antragsteller wegen des Verdachts der versuchten und vollendeten Steuerhinterziehung sowie wegen Urkundenfälschung.

Der im großen Stil organisierte Betrug wurde bei der für die Bewilligung des Kindergeldes zuständigen Familienkasse aufgedeckt. Hier waren im vergangenen Jahr Mitarbeiter stutzig geworden, weil es plötzlich deutlich vermehrt Anträge gab, in denen das Geld für drei oder vier Jahre rückwirkend beantragt wurde. Zudem hatten die Täter teilweise Ablehnungsschreiben von Firmen gefälscht, die es überhaupt nicht mehr gab - was naturgemäß bei den Mitarbeitern der Familienkasse nicht lange unentdeckt blieb. Man tauschte sich darüber aus, fragte herum und stellte ein offenbar organisiertes System fest.

Nicht nur ein Hamburger Phänomen

„Wenn der Betrug nicht aufgefallen wäre, wäre der Schaden deutlich höher gewesen“, sagte Knut Böhrnsen, Sprecher der Arbeitsagentur Hamburg, dem Abendblatt. „Und jeder falsch ausgezahlte Euro ist einer zu viel. Das zu Unrecht bewilligte Kindergeld holen wir uns zurück.“ Im Verhältnis zum insgesamt ausgezahlten Kindergeld seien die zu Unrecht bezogenen 141.000 Euro und die darüber hinaus beantragten 283.000 Euro allerdings eher gering. Im vergangenen Jahr sind allein in Hamburg 811 Millionen Euro Kindergeld für 334.700 Kinder ausgezahlt worden. In Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern waren es zusammen 2,64 Milliarden Euro.

Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei den massenhaften unberechtigten Anträgen auf Kindergeld nicht nur um ein Hamburger Phänomen handelt, es möglicherweise sogar nur die Spitze des Eisbergs ist. Dass es diese Art von Betrug gibt, wurde von der Hamburger Agentur auch den anderen Bundesländern mitgeteilt, um dort auf die Masche aufmerksam zu machen. „Wir sind gut vernetzt, wir geben das weiter“, sagte Arbeitsagentur-Sprecher Böhrnsen.

Besondere Regelung

Nach Abendblatt-Informationen sollen die Täter vermutlich so vorgegangen sein: Um möglichst viele Anträge stellen zu können, so der Verdacht, sprachen sie auf der Straße Menschen an, die Kinder in bestimmtem Alter haben könnten, um deren Personalien in den gefälschten Dokumenten zu verwenden. Darüber hinaus sollen Leute in Bars oder Kneipen kontaktiert worden sein. Es gibt weiterhin den Verdacht, dass sich die Betrüger in Whats-App-Gruppen ausgetauscht haben könnten.

Bei dem systematischen Betrug mit dem Kindergeld haben sich die Täter eine besondere Regelung zunutze gemacht. Diese erlaubte es Eltern, für ihre Kinder über 18 Jahren, die nicht mehr zur Schule gehen, nicht studieren oder in einem Ausbildungsverhältnis stehen, unter bestimmten Voraussetzungen rückwirkend für bis zu vier Jahre das Kindergeld zu beantragen. Bis Ende 2017 betrug der Satz für das erste und zweite Kind je 192 Euro monatlich. Seit dem 1. Januar dieses Jahres liegt die Summe bei 194 Euro. Und noch etwas hat sich seit Jahresbeginn geändert: Rückwirkend kann nun nicht mehr für vier Jahre beantragt werden - sondern nur noch für sechs Monate.