Lokstedt. Was ein Migrant aus Afghanistan in einem Hamburger Hotel erlebt hat, ist kein Einzelfall. DGB: “Hohe Dunkelziffer.“

Irgendwann platzte Nils Gerke der Kragen. Der ansonsten eher besonnene Zeitgenosse, der jahrelang Pastor in der Hauptkirche St. Petri und Leiter des dortigen Seelsorgezen­trums war, griff zum Telefon und ließ ordentlich Dampf ab bei dem zuständigen Mitarbeiter einer Dienstleistungsgesellschaft. „Drei Monate hat mein Schützling als Reinigungskraft in einem Ibis-Hotel in Hamburg gearbeitet und keinen Lohn bekommen“, sagt Nils Gerke. „So kann man mit Menschen nicht umgehen.“

Von den Taliban freigekauft

Sein Schützling, das ist Ahmed aus Afghanistan (Name geändert). Der 27 Jahre alte Mann hat einen weiten Weg hinter sich. Vor zwei Jahren hat ihn sein Vater für 5000 Dollar von den Taliban freigekauft und dann in Kandahar ins Flugzeug nach Teheran gesetzt. Die islamistischen Terroristen hatten Ahmed in seiner Heimatstadt Ghazni, 150 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul, gefangen genommen, weil er für eine amerikanische Firma Lkw gefahren war. „Sie haben mich bedroht, geschlagen und eine Woche lang festgehalten“, sagt Ahmed, der noch vier Schwestern und zwei jüngere Brüder hat.

Im Juni 2017 findet der Flüchtling Arbeit

Von Teheran ging es mit dem Bus zur türkischen Grenze, von dort gelangte er über Griechenland und Bulgarien nach Österreich. „Mit dem Bus wurde ich nach Berlin gefahren, und von dort kam ich nach Hamburg“, erzählt Ahmed. Im Juni, Juli sowie im Oktober und November 2017 fand er Arbeit als sogenannter Roomboy im Ibis Styles Hotel in Barmbek. Laut Stundenzettel hat er im Juni 36,5 Stunden, im Juli, Oktober und November noch einmal insgesamt 53 Stunden gearbeitet. Laut Arbeitsvertrag sollte er 8,84 Euro pro Stunde bekommen. Mit einer Leistungszulage, wenn er pro Stunde mehr als 3,5 Zimmer schafft, käme er sogar auf zehn Euro pro Stunde. Nils Gerke betreut Ahmed, der in einem Containerdorf an der Kollaustraße wohnt. „Als Ahmed mir erzählte, dass er immer wieder vertröstet worden ist, wenn er nach seinem Lohn gefragt hat, bin ich natürlich eingeschritten“, sagt Gerke, der auch bei Behördengängen hilft. Er hat nach seinem Telefonat immerhin erreicht, dass Ahmed jetzt seinen Lohn für die Arbeit im Oktober und November ausbezahlt bekommen hat. „Aber rund 320 Euro für geleistete Arbeit sind noch offen“, sagt Gerke.

Klage vor dem Arbeitsgericht

„In unserer Anlaufstelle für Menschen ohne gesicherten Aufenthalt kennen wir ähnliche Fälle und klagen den ausstehenden Lohn für die Kollegen notfalls vor dem Arbeitsgericht ein“, sagt Emilija Mitrovic vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Dort gibt es mit MigrAr eine Fachstelle für Migration und Vielfalt.

„Vor allem die rechtlose Lage der Menschen ohne Arbeitspapiere wird von Arbeitgebern oft schamlos ausgenutzt“, sagt Mitrovic. Sie erzählt von einer Reifenlagerfirma, die einen Arbeiter aus Benin eingestellt hat mit dem Wissen, dass dieser keine Aufenthaltspapiere für Deutschland hatte – und somit auch keine Arbeitserlaubnis. „Die Firma ließ diesen Mann mehrere Wochen für einen vereinbarten Lohn von 8,50 Euro die Stunde insgesamt 56 Stunden arbeiten und zahlte dann den ausstehenden Lohn von 476 Euro nicht aus“, sagt Mitrovic. Die Begründung lautete, der Arbeiter habe ja keine Arbeitserlaubnis, also dürfe man den Lohn gar nicht auszahlen. Erst nach der Intervention von MigrAr habe der Betroffene den Lohn erhalten.

Es gibt eine Servicestelle

„Es gibt leider noch keine Statistiken für diesen Bereich“, sagt Mitrovic, „wir haben jedoch eine Reihe von Anfragen von Geflüchteten.“ Insgesamt habe MigrAr seit Bestehen etwa 400 Anfragen bearbeitet und rund 100.000 Euro ausstehenden Lohn mit außergerichtlichen und gerichtlichen Verfahren erstritten. Seit dem 1. Februar gibt es bei der Servicestelle auch ein neues Projekt mit dem Namen „Faire Integration von Geflüchteten“. Dort werde auch eine Beratung durch einen Arabisch sprechenden Kollegen angeboten, sagt Mi­trovic. Sie glaubt, dass es eine „hohe Dunkelziffer“ von Fällen gibt, die nicht zur Anzeige kommen. „Aus Angst und Unkenntnis. Oft haben die Menschen einen prekären Aufenthaltsstatus und wollen deshalb den Arbeitsplatz nicht gefährden. Sie kennen die Rechtslage häufig nicht und sind entsprechend bereit, schlechtere Konditionen zu akzeptieren. Gewerkschaften sind für sie noch nicht als Interessenvertretung bekannt. Und dazu kommt oft auch noch die allgemeine Angst vor staatlichen Institutionen aus den Erfahrungen aus ihrem Herkunftsland.“

Ihr Rat für diese Menschen? „Sie sollten sich auf jeden Fall die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und den Arbeitsort in einem Arbeitszeitkalender notieren. Und auch die Auszahlung von Lohn sollte notiert werden, falls diese mit Bargeld geschieht.“ Wichtig sei es auch, Zeugen benennen zu können. „Also Namen und Telefonnummern von Kollegen notieren.“

Hotel hatte Probleme mit dem Dienstleister

Ahmed hat sowohl eine Aufenthaltsgestattung als auch eine Arbeitserlaubnis, die von der Ausländerbehörde gerade bis Dezember 2019 verlängert worden ist. Er kennt noch drei weitere Männer, die ebenfalls kein Geld für ihre Arbeit im Ibis-Hotel bekommen haben. Wie kann das sein?

„Bei uns läuft alles korrekt ab“, sagt Harald Uchtmann, Geschäftsführer der Hoteldienstleistungsgesellschaft (HDG) Servico. Und in diesem Fall? „Hier ist es so, dass wir erst ab 1. Juli quasi über Nacht in den Vertrag mit dem Ibis-Hotel eingestiegen sind, weil es wohl erhebliche Probleme mit dem Vordienstleister gegeben hat“, sagt Uchtmann. Das bestätigt auch Sebastian Horn. „Wir haben den Dienstleister aus Qualitätsgründen kurzfristig zum 1. Juli gewechselt, seitdem gibt es keine Pro­bleme mehr“, sagt der Ibis-Hoteldirektor. Für rund 48 Stunden im Oktober und November hat Ahmed von Servico 506,65 Euro brutto bekommen.

„Ich finde es wichtig, diese Geschichte zu erzählen“, sagt Ahmed, „damit nicht auch andere Menschen ausgenutzt werden, die ihre Heimat aus Todesangst verlassen mussten und hier in Deutschland Arbeit gefunden haben.“ Sein größter Wunsch ist es, in Deutschland als Lkw- oder Busfahrer zu arbeiten. „Schließlich habe ich diesen Beruf sieben Jahre lang in Afghanistan ausgeübt.“