Michaela Weiske und ihre Tochter Daniela sind beide Lehrerinnen. Die eine wird im kommenden Jahr pensioniert, die andere steht erst am Anfang. Ein Gespräch über neue Schulsysteme, anderen Unterricht und gestiegene Erwartungen
Zwei Lehrerinnen über die Schule und ihren Beruf damals und heute: Was hat sich verändert, was ist gleich geblieben? Daniela Weiske ist 31 Jahre alt und unterrichtet Mathematik, Biologie, Religion sowie Arbeit und Beruf in einer 6. und einer 9. Klasse an der katholischen Bonifatiusschule in Wilhelmsburg. Sie ist seit fünf Jahren Lehrerin. Ihre Mutter Michaela Weiske, 63, ist seit 38 Lehrerin und leitet derzeit eine 7. Klasse an der katholischen Franz-von-Assisi-Stadtteilschule in Barmbek. Ihre Fächer: Deutsch, Mathematik, Erdkunde, Geschichte, Religion, Werken sowie Arbeit und Beruf. Ein Generationengespräch.
Mit welchem Gefühl gehen Sie beide morgens in Ihre jeweiligen Schulen?
Michaela Weiske: Ich gehe sehr gern in die Schule. Jeder Tag ist anders. Ich kann noch so viel planen – das macht man natürlich –, aber es ist jeden Tag anders.
Daniela Weiske: Mit einem guten Gefühl, denn ich unterrichte sehr gern – Mathematik besonders, weil es eine Herausforderung ist, den Schülern das beizubringen, auch wenn es nicht so ein beliebtes Fach ist. Meine Motivation ist es, guten Unterricht zu machen. Und dass die Schüler Spaß haben.
Ist für Sie der Spaß am Unterricht auch wichtig, Frau Weiske senior?
Michaela Weiske: Also Spaß – dieses Wort habe ich nicht so gern. Für mich ist das Wichtigste: wenigstens einmal in der Unterrichtsstunde zusammen zu lachen, eine Wohlfühlatmosphäre zu schaffen und dass die Schüler merken: Der Lehrer mag mich und akzeptiert mich. Und es gibt Grenzen. Die Schüler wissen genau: Bis dahin kann ich gehen, dann gibt es eine Konsequenz.
Daniela Weiske: Was ich mit Spaß meine, ist: Die Schüler sollen gern kommen. Mathe, das weiß ich, macht denen keinen Spaß. Aber sie sollen sich ernst genommen fühlen und motiviert sein, an die Sache heranzugehen.
Was ist heute anders als Anfang der 1980er-Jahre, als Sie, Michaela Weiske, mit dem Referendariat fertig waren?
Michaela Weiske: Was Schulsysteme angeht, sind wir gebeutelt. Für mich gab es lange die Haupt- und Realschule, dann ging das los mit der sechsjährigen Grundschule. Daraus wurde ja nichts, und dann kam die Stadtteilschule.
Daniela Weiske: Die Einführung der Stadtteilschule ist wohl die größte Veränderung vom System her. Auch das Notensystem war für uns alle neu.
Ist das gemeinsame Lernen eine besondere Herausforderung?
Michaela Weiske: Ja, denn ich habe eben alle Leistungsstufen in einer Klasse, dazukommen noch ständig neue Notensysteme. Wir hatten Jahre mit drei verschiedenen Notensystemen.
Das soll ja der besseren Differenzierung dienen. Aber es bedeutet auch mehr Aufwand
Michaela Weiske: Auf jeden Fall. Die Vorbereitung von Arbeiten bedeutet mehr Arbeit, weil ich mir genau überlegen muss, Aufgaben für die sehr guten Schüler zu stellen, aber auch für die Inklusionskinder. Die bekommen teilweise andere Aufgaben, aber auch andere Arbeiten.
Hat der bürokratische Aufwand generell zugenommen?
Michaela Weiske: Ja. Etwa 30 Prozent meiner Arbeit besteht inzwischen darin, Listen zu führen, man muss alles dokumentieren. Das war früher nicht so.
Was muss denn alles dokumentiert werden, haben Sie Beispiele?
Michaela Weiske: Elterngespräche, Lernentwicklungsgespräche.
Daniela Weiske: Wir müssen Förderpläne schreiben für die Inklusionskinder, Konferenzen dokumentieren. Acht im Jahr sind festgelegt. Wir haben dann noch Teamtreffen im Jahrgang sowie Fachkonferenzen.
Michaela Weiske: Ich muss auch dokumentieren, wenn jemand den Schulhof verlassen hat, das geht dann in die Akte des Schülers. Sollte es eine Keilerei gegeben haben, muss die Schule überlegen, ob sie das meldet.
Stichwort Inklusion. Wie wurden Sie auf diese Neuerung vorbereitet?
Michaela Weiske: Gar nicht, mit Ausnahme einzelner Kollegen. Unterstützung durch eine zweite Lehrkraft oder eines Sozialpädagogen findet lediglich in einzelnen Stunden statt.
Daniela Weiske: Man kann Fortbildungen besuchen. Aber die Praxis ist dann eh anders. Wir haben immer mehr Inklusionskinder. Ich habe in meiner Klasse ein Inklusionskind.
Können Sie den Schülern überhaupt gerecht werden?
Michaela Weiske: Ich habe drei Inklusionskinder. Man kann nicht allen Schülern gerecht werden. Selbst eine umfangreiche Differenzierung stößt in der praktischen Umsetzung an Grenzen.
Wie könnte es besser gehen?
Michaela Weiske: Hier können nur eine ständige Zweitbesetzung, kleinere Lerngruppen, Vorhandensein von passenden Lehr- und Lernmitteln und Räumlichkeiten Abhilfe schaffen.
Wie hat sich die Schülerschaft generell verändert?
Michaela Weiske: Diese vielen Verhaltensauffälligkeiten, ADHS zum Beispiel, das gab es früher gar nicht. Vor allem, dass die dann mit Medikamenten behandelt werden.
Benehmen sich Schüler heute anders als in den 1980er-Jahren?
Michaela Weiske: Die Verrohung der Sprache hat zugenommen, da halten sich Schüler auch Lehrern gegenüber kaum zurück. Hier ist es wichtig, den Schülern beizubringen, einen respektvollen Umgang miteinander zu pflegen. Es kommt immer wieder vor, dass Schüler Bitten von mir, zum Beispiel Papier oder Müll aufzuheben und zu entsorgen, ablehnen – mit der Begründung: Das war ich nicht.
Sind Lehrer heute für viel mehr zuständig als die reine Wissensvermittlung?
Michaela Weiske: Klar, sie sind Erzieher und Sozialarbeiter. Dieser Bereich hat zugenommen. Wir machen auch mal Hausbesuche, wenn die Schüler längere Zeit nicht kommen. Das muss alles dokumentiert werden.
Kommen Sie noch dazu, den Schülern etwas beizubringen?
Michaela Weiske: Die Wissensvermittlung tritt manchmal schon in den Hintergrund. Wenn ein Konflikt in der Klasse ist, muss ich den lösen. Ich kann dann nicht meinen Stoff durchziehen.
Daniela Weiske: Das Pädagogische ist sehr im Vordergrund.
Hat sich der Status des Lehrers gewandelt?
Michaela Weiske: Heute heißt es: Der Lehrer muss machen. Eltern geben Verantwortung ab. Der Lehrer ist für alles zuständig. Lehrer sind die Mülleimer der Nation. Irgendwann müssen wir die Kinder noch nachts betreuen.
Sie beziehen sich auf die Nachmittagsbetreuung, die gab es vor 38 Jahren nicht.
Michaela Weiske: Die Nachmittagsbetreuung ist neu. Es gab vielleicht mal eine Hausaufgabenhilfe, dann blieb ein Teil der Schüler in der Schule. Jetzt haben wir an die 80 bis 100 Schüler, die bis 16/16.30 Uhr betreut werden.
Liegt das auch an der zunehmenden Berufstätigkeit der Eltern?
Michaela Weiske: Ja, und wir haben mehr Alleinerziehende, der Zerfall der Familien hat zugenommen.
Daniela Weiske: Aber es ist nicht so, dass nur diese Eltern ihre Kinder hier betreuen lassen, sondern auch die anderen, die zu Hause sind.
Ihr Eindruck: Die Eltern sind froh, wenn das Kind länger in der Schule ist statt zu Hause?
Daniela Weiske: Das weiß ich gar nicht. Aber manche Eltern sehen: Ach, ich kann mein Kind in der Schule betreuen lassen. Das ist ja schön.
Michaela Weiske: Die Eltern sehen: Mein Kind macht die Hausaufgaben in der Schule, und wenn mein Kind dann nach Hause kommt, habe ich damit nichts mehr zu tun. Dann ist Schule fertig.
Wie bewerten Sie das?
Michaela Weiske: Ich finde es traurig. Es gibt Fälle, da geht es bestimmt nicht anders. Aber ich habe den Eindruck, die Eltern haben so wenig Interesse an ihren Kindern, vor allem dann, wenn sie merken, die machen kein Abitur und sind hintenan.
Haben die Eltern also eine große Erwartungshaltung?
Michaela Weiske: Ja, und wenn ihre Kinder diese nicht erfüllen können, dann kümmern sie sich weniger. Dann geben sie ihre Kinder auf und aus der Hand. Die Schule soll dann noch das Beste daraus machen.
Daniela Weiske: Ja, die Schule oder das Kind selbst. Viele Kinder sind auf sich allein gestellt. Es gibt aber natürlich auch engagierte Eltern.
Durch die Digitalisierung hat sich sicher auch eine Menge verändert, oder?
Daniela Weiske: Ja, alle haben WhatsApp. Und wenn in der WhatsApp-Gruppe der Klasse ein Konflikt aufkommt, muss der Lehrer das klären. Da habe ich gleich die Eltern am Telefon, die sagen: Das müssen Sie in der Schule besprechen. Privates und Schule verschwimmen in dem Moment.
Michaela Weiske: Gab es vor 38 Jahren schon den Begriff Mobbing?
Michaela Weiske: Nein, was da heute abgeht im Netz, gab es nicht. Klar wurden Kinder vereinzelt mal geärgert. Wenn dann Eltern kommen und sagen, meine Tochter wird bei WhatsApp beschimpft am Nachmittag, dann muss ich ehrlich sagen: Tut mir leid, damit habe ich dann wirklich nichts zu tun. Keine Eltern haben meine Handynummer, da bin ich ganz strikt. Das muss nicht sein.
Wie ist das bei Ihnen, Daniela Weiske?
Daniela Weiske: Ich habe die Handynummer der Klassensprecherin, und ich schreibe die Klassensprecherin an, wenn zum Beispiel etwas ausfällt, und die leitet es dann weiter. Meine Schüler haben auch meine Handynummer. Es kommt ganz selten vor, dass mich ein Schüler mal anschreibt oder dass Eltern mir Bescheid geben, wenn ihr Kind nicht kommt. Das ist schon praktisch.
Sind die neuen Medien nicht auch ein Segen für den Unterricht?
Michaela Weiske: Die Zeiten, in denen ich mit einer Matrize Tage vorher zum Hausmeister gehen musste, um die vervielfältigen zu lassen, oder ich Tage vorher bei der Landesbildstelle anrufen musste, um einen Film zu bestellen, sind zum Glück vorbei. Ich habe einen Computer und ein Smartboard, das ist toll und sehr hilfreich.
Das war früher sehr umständlich.
Daniela Weiske: Unterrichtsvorbereitung wird vereinfacht, und der Unterricht bleibt attraktiv für die Schüler. Veränderungen sollte man positiv begegnen und nutzen.
Michaela Weiske: Man kann den Unterricht viel interessanter gestalten. Ich war früher zuständig für Landkarten, die brauchen wir nicht mehr. Ich muss diese Materialien nicht mehr besorgen. Das ist eine Erleichterung.
Daniela Weiske: Ja, aber man muss sich schon einarbeiten. Da tun sich junge Kollegen leichter als ältere.
Welche Auswirkungen haben die neuen Medien auf die Schüler?
Michaela Weiske: Schüler schreiben heute weniger. Sie fragen: Kann ich das Tafelbild mal eben abfotografieren?
Sie nutzen neue Medien auch im Unterricht?
Michaela Weiske: Klar, aber die Schüler können nicht immer damit umgehen. Die gehen gar nicht mehr in Büchereien, sondern drucken vor einem Referat am Abend vorher einfach bei Wikipedia etwas aus und lesen es nur ab.
Früher gab es nur Frontalunterricht, was hat sich da getan?
Michaela Weiske: Es gibt viel mehr Partner- und Gruppenarbeit. Ich kann mich herausziehen und bin Beobachter. Das ist gut. Ich habe Schüler, die fertig sind, das sind dann meine Experten, die ihren Mitschülern helfen.
Daniela Weiske: Der Lehrer ist ein Berater, der individuell gucken und fördern kann.
Sind die Rechtschreibfähigkeiten wirklich so schlimm?
Michaela Weiske: Ja, die Rechtschreibung ist katastrophal. Von 25 Schülern habe ich drei Schüler, deren Texte ich nicht entziffern kann, weil sie nicht schreiben können.
Daniela Weiske: Viele haben Deutsch auch nicht als Muttersprache. Die sprechen zu Hause kein Deutsch.
Sie mussten mit vielen Veränderungen zurechtkommen, Frau Weiske senior.
Michaela Weiske: Ja, man muss flexibel sein. Aber ich möchte es auch immer wieder anders machen, nicht immer so wie vor zehn Jahren. Es gibt doch nichts Langweiligeres, als dasselbe Thema wie vor fünf Jahren auf die gleiche Art zu präsentieren.
Daniela Weiske: Man muss mit der Zeit mitgehen und sich anpassen, sonst geht man unter als Lehrer.
Würden Sie wieder Lehrerin werden?
Michaela Weiske: Immer! Und immer an einer katholischen Schule, weil mir die christliche Grundeinstellung und das Erlebbar- und Sichtbarmachen unseres Glaubens ganz wichtig sind.
Daniela Weiske: Ich würde das auch immer wieder werden wollen. Die Lehrer müssen immer mehr machen. Daraus folgt, dass sich auch das System Schule ändern muss, und hier sind wir gerade in der Umbruchphase. Diesen Veränderungen muss man offen begegnen, aber Lehrer werden leider viel zu oft vom System Schule alleine gelassen.