Dithmarschen. Vor 300 Jahren riss die Weihnachtsflut ganze Landstriche an der Nordsee weg, tausende Menschen starben.
Am 23. Dezember 1717 wehte ein starker Südwestwind über die deutsche Nordseeküste. Dass es ein stürmisches Weihnachtsfest werden könnte, ahnten die Bewohner in Dithmarschen, Eiderstedt, in Nord- und Ostfriesland. Aber sie würden schon trockenen Fußes durch die Festtage kommen, hofften wohl die meisten. Schließlich hatten sie erst vor einiger Zeit eine Reihe von Unglücken überstanden – die Fastnachtsflut, eine Viehseuche, die Pest und eine Mäuseplage.
Zwar nahm der Wind am 24. Dezember noch einmal kräftig zu, sodass der Gang zur Christvesper einiges Stehvermögen abverlangte. Aber gegen Mitternacht flaute der Sturm ab. Beruhigt legten sich die Menschen am Heiligen Abend in ihre Schlafstätte. Doch es war eine trügerische Ruhe. Denn nur Stunden später ereignete sich die „größte Flutkatastrophe der Neuzeit“, wie der Geesthachter Klimaforscher Hans von Storch und der Kieler Küstenarchäologe Dirk Meier betonen. Weil die Deiche auf breiter Front brachen und der „Blanke Hans“ mit kaum gekannter Kraft wütete, starben zwischen den Niederlanden und Schleswig-Holstein in der Heiligen Nacht rund 11.000 Menschen.
Glückstadt drohte der Untergang
Glückstadt drohte der Untergang, die Haseldorfer Marsch stand komplett unter Wasser. „Mit unerhörter Wuth stürmten die Wogen die Deiche an; (...) zerrissen, durchbrachen sie an mehreren Stellen, und ergossen sich mit tosender Gewalt und reißender Schnelle über die weiten Ebenen“, schilderte der Chronist Friedrich Arends ein Ereignis, das als die „Weihnachtsflut von 1717“ in die Annalen eingehen sollte.
Ob auf Pellworm, in der Herrschaft Jever oder in Dithmarschen und Nordfriesland – überall an der Küste war Weihnachten 1717 Land unter. Selbst im weit entfernten Hamburg standen Häuser unter Wasser.
Augenzeugen von der Nordseeküste berichteten über die „mit Thränen verknüpffte Weynachts-Freude“, von „ungestümen Meereswellen“, von „erbärmlich umgekommenen Menschen“, ertrunkenem Vieh, zerstörten Häusern und Deichen. Binnen weniger Stunden starben 10.000 Pferde, 40.000 Rinder, 10.000 Schweine, 35.000 Schafe. Mehr als 4000 Häuser wurden vom stürmischen Meer weggerissen. „Es gab Kirchspiele an der Nordsee, die – wie Minsen in der Herrschaft Jever – ein Viertel ihrer Bevölkerung einbüßten“, sagt der Küstenarchäologe Dirk Meier.
Pietistische Prediger sprachen vom „Strafgericht Gottes“
Wie das Wasser wütete, hat er auf der Basis historischer Daten und Berichte akribisch rekonstruiert. Die Weihnachtsflut wurde mit der nachfolgenden Eisflut vom 25. Februar 1718 noch verschärft. Diese erreichte zwar nicht die Höhe der Weihnachtsflut. Doch das mitgeführte Eis beschädigte die notdürftig ausgebesserten Deiche. Besonders hart traf es Dithmarschen. Das Wasser stand dort an vielen Stellen mehr als zwei Meter hoch, weil die Deiche aufgrund der schlechten Tragfähigkeit des moorigen Untergrunds dem Druck des Wassers nicht standhielten. Die ganze Marsch „glich einer offenbaren See“, schrieb der Heimatchronist Johann Adrian Bolten in seiner vierteiligen Geschichte Dithmarschens.
Itzendorf, einst Stammsitz der stolzen ostfriesischen Häuptlingsfamilie Itzinga, wurde vom Meer verschlungen. Alle Versuche, der kleinen Siedlung wieder Leben einzuhauchen, schlugen fehl. Nach einer weiteren Flut am Neujahrstag 1721 wurde Itzendorf aufgegeben.
Stoff für „Bußpredigten“
Wer die Katastrophe überlebte, musste um sein täglich Brot kämpfen. Hunger und Krankheiten waren die Folge, viele Bauern standen vor dem Ruin. Dazu kam die Trauer über den Verlust geliebter Menschen – und die quälende Frage nach dem Warum. Für die Geistlichen bot die Weihnachtsflut genug Stoff für „Bußpredigten“. Pietistische Pastoren brachten die Katastrophe sogar in einen Zusammenhang mit dem 200. Gedenken an Luthers Reformation – die „Vollendung“ stehe nach dem „Strafgericht Gottes“ eben noch aus, predigten sie.
Doch diese enge theologische Deutung stellten viele Zeitgenossen infrage, betont der Historiker Manfred Jakubowski-Tiessen. Vor allem Deichbauer kamen zu der Erkenntnis, dass die Wirkung des Strafgerichts Gottes durch den Bau guter Deiche hätte vermindert werden können.
300 Jahre später wird jetzt jener Katastrophe gedacht, die Klimaforscher wie Hans von Storch in einem Atemzug mit der Nargis-Flut in Myanmar im Mai 2008 mit rund 100.000 Toten nennen, um das globale Phänomen von verheerenden Sturmfluten zu beschreiben. „Sturmfluten gehören neben Tsunamis und Erdbeben mit zu den stärksten Naturgefahren.“
Studie über Deichschutz
Die Hauptursache für die Katastrophe von 1717 lag im weder ausreichenden noch einheitlichen Küstenschutz. Die Küstenbewohner haben inzwischen daraus gelernt. Wegen der globalen Erwärmung stellt sich die Waterkant auf steigende Wasserstände und eine Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Sturmfluten ein. „Bis 2030 ist der aktuelle Küstenschutz an der Nordsee ungefähr noch so wirksam wie heute, denn bis dahin werden Sturmfluten voraussichtlich,nur‘ ein bis drei Dezimeter höher auflaufen als heute“, heißt es in der Studie „Nordseesturmfluten im Klimawandel“ des Geesthachter Helmholtz-Zentrums. „Bis Ende des Jahrhunderts kann durch die erhöhten Sturmflutwasserstände allerdings Handlungsbedarf entstehen.“ Bis dahin müssten die Küstenschutzmaßnahmen angepasst werden, fordern die Autoren der Studie.
Die Ausstellung:
Im Nordseebad Dangast (Varel) wird der Weihnachtsflut von 1717 mit einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm gedacht. Die Akademie Dangast zeigt bis zum 14. Januar die Wanderausstellung „300 Jahre Weihnachtsflut – die verheerende Sturmflut von 1717 kam in der Christnacht“. Etwa 20 Großposter präsentieren den Ablauf dieser Flut, beschreiben die Zahl der Opfer und den Umfang der Schäden entlang der Küste, Augenzeugen berichten in Briefen von der Not der Bevölkerung. Ein Gedenkgottesdienst findet am 25. Dezember statt.
Infos: www.akademie-dangast.de