Hamburg. Jochen Meinke ist der älteste lebende Meister des HSV von 1960. Ein Gespräch über Sport während des Zweiten Weltkriegs und danach.
Uwe Seeler nennt ihn stets „meinen Kapitän“, wenn sie sich treffen. Jochen Meinke führte den HSV 1960 als Spielführer zur Deutschen Meisterschaft. Der 87-Jährige besuchte kurz vor Weihnachten die Abendblatt-Redaktion, um über alte, ganz alte, aber auch neue Zeiten zu klönen.
Hamburger Abendblatt: Man glaubt es kaum, wenn man Sie so anschaut: Sie sind am 13. Oktober 1930 geboren...
Jochen Meinke: ...und am 1. Juli 1945 in den HSV eingetreten. Länger her (lacht).
Was zog Sie damals zum HSV?
Meinke: Meine Eltern stammen aus Stralsund, für die gab es nur den HSV. Mein Vater hat im Spaß Live-Reportagen verfasst: Und vorne spielt Meinke!
Ihre Jugend fiel in die Kriegszeit. Wie sehr konnte Sie ihr Vater überhaupt fördern?
Meinke: Gar nicht. Mein Vater wurde 1940 eingezogen, nach 1941 sah ich ihn erst wieder, als er 1949 aus polnischer Gefangenschaft zurückkehrte.
Dann haben Sie in jenem Jahr wohl ihr glücklichstes Weihnachten gefeiert.
Meinke: Drei Jahre wussten wir gar nicht, ob er noch lebt. Erst als Erwachsener kann man ermessen, wie schwer die Zeit für meine Mutter gewesen sein muss, die mit drei Kindern in der Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung am Goldbekufer lebte. Zwei Jahre nahmen wir eine vierköpfige Familie auf, deren Haus zerstört worden war. Da waren wir acht.
Weihnachtsgeschenke...
Meinke: ...ach, Geschenke. Das Wichtigste war, etwas zu essen zu haben. Das Schönste, das weiß ich seit jener Zeit, ist das Familienleben. Ich weiß noch genau, was mein Vater sagte, als er mich sah: 2,05 Meter groß, aber nix im Liev (d., Leib, die Red.). Ich war wirklich ein dünner Schlaks, wenn auch unter zwei Meter...
...der aber ein paar Monate später für den HSV in der Liga auflief.
Meinke: Einmalig war das! Mein Vater konnte vieles nachholen, er hat mich sogar zu Auswärtsspielen begleitet.
Wie stark sind die Bilder vom Zweiten Weltkrieg noch in ihrem Kopf präsent?
Meinke: Ich weiß noch genau, wie das war, als der Krieg ausgebrochen ist. Als Kinder wussten wir das aber nicht richtig einzuschätzen, wir bekamen bis 1943 nur Siegesmeldungen zu hören. In der Schule mussten wir Vorträge halten, wie weit unsere Soldaten im Osten und in Afrika vorgedrungen waren. Kurioserweise konnte ich von 1943 bis 45 sogar noch Fußball spielen. Beim SC Sperber.
Warum nicht beim HSV?
Meinke: Ich durfte nicht, der Weg von Winterhude nach Ochsenzoll war zu weit. Haften geblieben sind mir die Kinderlandverschickungen. Das Kriegsende habe ich in Gößweinstein in Franken erlebt. Das Erstaunliche, ja Unvorstellbare für mich war aber: Im Juli 1945 stand ich schon wieder auf dem Fußballplatz.
Der Sport dominierte schnell wieder?
Meinke: Nicht ganz. Es kamen unglaublich viele Flüchtlinge aus den Ostgebieten, dem Sudetenland. In Ochsenzoll wurden deshalb auf drei, vier Plätzen für einige Jahre Nissenhütten (Fertigbau aus Wellblech, d. Red.) aufgestellt. Das erinnert an die heutige Flüchtlingslage, mit dem Unterschied, dass das eben überwiegend Deutsche waren, mit denen ist gleich man anders umgegangen.
Wie denken Sie denn über die aktuelle Flüchtlingsproblematik?
Meinke: Ganz schwierig zu beantworten. Es gibt ja nicht nur einen Typ Flüchtlinge. Einige wollen sicher nur von uns profitieren, bei anderen geht es um die Existenz und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Eine zentrale Frage ist, wie viele Menschen wir aufnehmen können. Ich finde es auch traurig, dass wir uns in Europa nicht einig sind.
Zurück zum Sport: Mit Uwes Bruder Dieter waren Sie ja dick befreundet. Wann lernten Sie die Seeler-Familie kennen?
Meinke: Das war... (überlegt), im August 1945. Uwe war acht Jahre alt, Dieter fünf Jahre älter. Die Familie hat mich aufgenommen wie ihren eigenen Sohn. Das Essen war knapp, aber bei den Seelers gab es immer was, weil Vater Erwin im Hafen arbeitete. Der Grundstein für die Harmonie und den Teamgeist in der Meister-Mannschaft von 1960 wurde damals gelegt. Während der Jugendzeit haben wir oft Ausflüge unternommen, sind in den Harz, ins Weserbergland gereist.
Als Sie zum Herrenteam aufstiegen, hatten Sie es aber erst mal mit Größen wie dem späteren Weltmeister Jupp Posipal zu tun.
Meinke: Ein Traum ging in Erfüllung! Als junger Bursche schaute ich bei jedem Spiel zu, jetzt durfte ich mitspielen. Anfangs habe ich die Spieler gesiezt. Aber die haben mich schnell korrigiert: Hör auf damit, du bist ja nicht ganz dicht! Zu Jupp: Das war der beste Kollege, den man sich vorstellen konnte.
Von Posipal haben Sie später die Binde übernommen. Wie war es, die Mannschaft um Uwe und Dieter Seeler zu führen?
Meinke: Ganz einfach. Nur einmal stand ich kurz davor, Dieter selbst vom Platz zu werfen, weil er nur noch gemeckert hat. In der Pause sagte ich ihm: Noch ein Wort, und du fliegst raus! Nach dem Spiel kam Dieter zu mir und entschuldigte sich.
Wie sah eine typische HSV-Woche aus?
Meinke: Wir haben Dienstag und Donnerstag ab 17 Uhr etwa 90 Minuten trainiert. Nur bei Gruppenspielen um die Deutsche Meisterschaft einmal mehr.
Wie organisierten Sie das mit dem Job?
Meinke: Erst habe ich Drogist gelernt, wo ich oft länger arbeiten musste. Also bin ich in den Großhandel. Als ich dann zwei Monate nichts machte, sagte mein Vater zu mir: Ein Meinke ist noch nie arbeitslos gewesen. Du kommst zu mir in die Tankstelle! Ein Glücksfall, so konnte ich normal trainieren.
Wie liefen die Spieltage?
Meinke: Wenn um 15 Uhr angepfiffen wurde, haben wir uns um 13 Uhr getroffen. Gegessen haben wir Zuhause, kein Trainer wusste, was auf den Tisch kam. Bei Auswärtsspielen hatten wir unsere Stammgaststätten. Oft wurde Steak bestellt – oder auch nichts, wenn einer keinen Hunger hatte. Das war wie bei jeder anderen Amateurtruppe.
Gezahlt wurde ja auch amateurhaft...
Meinke: ...Im Vergleich zu heute ja. Wobei: Ich verdiente anfangs 320 Mark im Monat, als Angestellter aber gerade mal 150 Mark. In den Spielen um die deutsche Meisterschaft gab es sogar 600 Mark. Ich dachte mir: Das kann doch nicht wahr sein, das verdiene ich sonst in vier Monaten! Für mich war das eine andere Dimension.
Und, gönnten Sie sich denn mit ihrem ersten Gehältern etwas Luxus ?
Meinke: Heinz Spundflasche trug als erster einen grünen Ledermantel, so einen wollte ich unbedingt haben. Der kostete bei Leder Teichert 360 Mark. Ich hatte das Geld nicht ganz, habe deshalb einen Kredit aufgenommen, den ich mit 50 Mark monatlich getilgt habe. Später habe ich mich geärgert, dass ich deswegen Schulden hatte.
Haben die geringeren Verdienstmöglichkeiten aber nicht auch Neid verhindert?
Meinke: Wissen Sie, was ganz wichtig war? Wir haben gesagt: Ob einer spielt oder nicht, alle bekommen das gleiche Geld, auch die 50 Mark Siegprämie, die wir schwarz kassiert haben. Heute darf man das ja zugeben (lacht). Wir waren eine verschworene Gemeinschaft. Nach den Spielen sind wir oft mit zehn Ehepaaren auf die Reeperbahn zum Tanzen gefahren. Tango, Cha-Cha-Cha und so.
Ging das denn problemlos mit den Fans?
Meinke: Die Leute haben uns nett zugenickt, mehr nicht. Mit heute ist das nicht zu vergleichen. Wenn ich mit Uwe unterwegs bin, ist das oft eine Zumutung.
Haben Sie beim Tanz ihre Frau getroffen?
Meinke: Nein, beim HSV.
Wo auch sonst...
Meinke: Erika spielte Handball, zusammen mit Uwes Schwester Purzel. 1950 haben wir uns das erste Mal getroffen, seit 63 Jahren sind wir verheiratet.
Man sieht sie auch bei jedem Heimspiel zusammen auf der Tribüne.
Meinke: Ich bin für immer HSVer und dem Verein sehr dankbar. Im Übrigen glaube ich, dass das Team besser ist als sein Tabellenplatz. Ich habe trotz der jüngsten Misserfolge Hoffnung auf einen einstelligen Rang.
Stört es Sie, dass heute so viel Geld im Spiel ist?
Meinke: Wenn Spieler mittlerer Klasse drei Millionen verdienen, frage ich mich schon: Wer ist auf die Idee gekommen, denen so viel Geld zu geben?
Die Spieler verdienen monatlich mehr als die 60er-Meister im Jahr zusammen.
Meinke: Stimmt, wobei wir damals vor allem über die vielen Freundschaftsspiele, ob gegen Manchester United oder Real Madrid, viel Geld eingespielt haben. Wir Spieler haben es jedenfalls nicht bekommen. Sie sehen, auch vor 50 Jahren konnte man sich wundern, wo das ganze Geld beim HSV geblieben ist...
Jeder, der Sie kennt, bewundert ihr phänomenales Gedächtnis. Wie machen Sie das?
Meinke: Man muss immer im Gange bleiben, nicht nur im Sessel hängen. Mein Leben lang habe ich Sport betrieben. Meine Hüfte schränkt mich zwar etwas ein, aber ich gehe jede Woche Schwimmen. Ich lese sehr viel. Und ich treffe noch immer regelmäßig meine früheren Mitspieler, auch die von Sperber. Mit mir sind wir noch zu dritt. Freundschaft ist ein großer Wert für mich.
Unter www.abendblatt.de/matzab finden Sie auch ein Video-Interview mit Jochen Meinke