Hamburg. Der einstige Kraftwerk-Musiker Karl Bartos lebt seit Langem in Hamburg. Jetzt hat er seine Autobiografie geschrieben. Eine Begegnung.
Auf dem Weg zum Interview noch einmal „Computerliebe“ hören und „The Model“: Großartige Evergreens des Pop, sie sind legendär und wahrhaft zeitlos. Und wie alles, was einmal bahnbrechend war und heute dennoch retro klingt, auch irgendwie rührend. „Sie ist ein Model, und sie sieht gut aus“, La-Lalalala-Lala.
Karl Bartos wartet vor Lühmanns Teestube, und er ist unverkennbar der Mann vom Cover der Kraftwerk-Alben. Die Haarfransen hängen ihm immer noch akkurat auf Linie getrimmt in die Stirn. Bartos sieht jünger aus als 65, und er spricht in der singenden Melodie, die den Rheinländer verrät. Später wird er behaupten, dass er in Hamburg, wo er seit 20 Jahren lebt, keine Freunde hat. Dabei wird er überhaupt nicht unglücklich aussehen. Das Netzwerk aus Freunden und Kollegen umspannt den Globus.
Aber er berichtet am Anfang eines langen Gesprächs, in dem Bartos, der ehemalige Kraftwerk-Musiker, versuchen wird, der Vergangenheit ihre manchmal quälenden Geister auszutreiben, erst mal von der Lesung in Düsseldorf. Schön war’s, sagt der Wahl-Rissener Bartos, „ein Heimspiel“. Da stammt er ja her, der Musiker Karl Bartos, der zwar in Berchtesgarden geboren wurde, aber in Nordrhein-Westfalen aufwuchs: aus der vitalen, sagenhaften Düsseldorfer Szene, einem Zentrum der Musik, der Malerei und der Fotografie. In ihr entstand Anfang der 1970er-Jahre nicht zufälligerweise Kraftwerk, die wichtigste deutsche Pop-Unternehmung überhaupt.
Karl Bartos sagt: „Die ,New York Times‘ mag uns die Beatles des Techno genannt haben, die Erfinder der Tanzmusik – das möchte ich nicht kommentieren, ich habe Kraftwerkimmer als eine sehr traditionelle Musikgruppe wahrgenommen.“ Bartos ist ein freundlicher, zugewandter Herr, der sich, was andere Aussagen noch viel mehr als diese beweisen, nicht unbedingt wichtiger nehmen will, als er ist. Andererseits geht es ihm genau darum: seinen Teil einzufordern, Wertschätzung, zu erklären, wie wichtig er bei Kraftwerk war.
Wer jemand ist, wer er sein will, dass es entscheidend ist, für das eigene Tun anerkannt zu werden: Das ist die Sache, um die es immer geht. Karl Bartos war von 1975 bis 1991 Mitglied bei Kraftwerk. Er war an der Produktion von vier Alben beteiligt. Er hat „The Model“ mitgeschrieben und „Computerliebe“. Er gehörte neben Ralf Hütter, Florian Schneider und Wolfgang Flür zur „klassisch“ genannten Kraftwerk-Besetzung. Und er war mit Hütter, Schneider und Künstler Emil Schult für eine ganze Weile hauptsächlich für die kompositorische und konzeptionelle Ausrichtung der heute noch viel mehr als damals global bewunderten Musikgruppe verantwortlich.
Aber Bartos war auch derjenige, der nach vielen künstlerischen und persönlichen Konflikten Kraftwerk im Streit verließ. Die aufsehenerregende Wiederentdeckung Kraftwerks hat Bartos, der als Solokünstler und unter verschiedenen Namen in den vergangenen Jahren etliche Platten veröffentlicht hat, aus der Entfernung verfolgt. Es ist eine kritische, stellenweise sehr kritische Distanz; und dennoch schaut Bartos auch mit viel Wärme und Zuneigung auf seine Kraftwerk-Jahre zurück. Er wisse noch genau, wie hart damals für ihn der Abschied gewesen sei, sagt Bartos, „und jetzt, nach so vielen Jahren, dachte ich, dass unter Umständen meine Sicht auf die Geschichte unserer Band auch interessant sein könnte“.
Tournee durch das eigene Musikerleben
Das ist zurückhaltend gesagt und entspricht dem Ton, den Bartos in seiner unlängst erschienenen Autobiografie „Der Klang der Maschine“ anschlägt. Das tut er allerdings auch deswegen, um rechtlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Als der Ex-Bandkollege Flür vor einiger Zeit ein Buch über seine Kraftwerk-Jahre veröffentlichte, musste er es nach einer gerichtlichen Anordnung umschreiben. „Ich habe mich bemüht, in meiner Darstellung nur über Dinge zu sprechen, die ich auch verifizieren kann, wie etwa die Tonaufnahmen unserer Writing Sessions“, sagt Bartos.
Sein Buch ist eine Tournee durch das eigene Musikerleben, ein Zeugnis der Klang- und Technikfaszination, die Innensicht einer mythisch aufgeladenen Band und eine kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik. Alles sehr unterhaltsam aufgeschrieben und auch mit Blick auf die kleinen Dinge. Bei der Schilderung der Vorgänge im Studio und den Musiktheorien hat es ihn manchmal davongetragen. Und zwar so sehr, dass der Lektor ihn habe bremsen müssen, sagt Bartos und lacht. Wenn man seine Schilderungen des Geschehens rund um Kraftwerk liest, spürt man die Hingabe für das gemeinsame Tun, die zeitweilige Nähe zu seinen Kollegen, aber auch immer den Abstand. Es ist der Abstand des späten Karl Bartos, der mehr weiß als der frühe.
Elektronische Revolution
Er würde sich, sagt Bartos, von heute aus betrachtet „als vor allem naiven jungen Mann“ beschreiben. Ein junger Mann, der als Jugendlicher für die Beatles entbrannte, in Schülerbands spielte und an der Musikhochschule in Düsseldorf Klavier, Vibrafon und Schlagzeug studierte. Das Kraftwerk-Album „Autobahn“ war 1974 erschienen, die Band stand am Anfang ihrer elektronischen Revolution. Für Live-Auftritte suchten sie einen Schlagzeuger. Also riefen sie, nach der Vermittlung eines Dozenten, Bartos an. Als jemand mit klassischer Musikausbildung hatte der einen anderen Zugang als die Bandgründer Hütter und Schneider, was dem Gebilde nur zugutekommen konnte. Er sei derjenige gewesen, erinnert sich Bartos, der die Partituren auch der Kraftwerk-Stücke vor seiner Zeit geschrieben habe.
Bartos stürzt sich mit Verve in die Vergangenheit, aber die ist ohne die Gegenwart nicht zu denken, in der sich seine Sichtweise auf die Vorgänge geändert hat. Mit Ralf Hütter, dem einzig verbliebenen Mitglied der klassischen Phase, hat Bartos seit Jahrzehnten keinen Kontakt. Wenn man miteinander zu tun hat, dann nur in Urheberrechtsfragen. Als er vor einiger Zeit ein Konzert von Kraftwerk im CCH besuchte, musste er sich selbst eine Karte kaufen.
Freier Unternehmer
Es gibt viel, was Bartos über Kraftwerk, jenes stolze Flaggschiff deutschen Popschaffens, zu erzählen hat. Hütter beansprucht die Deutungshoheit über alles, was mit der Gruppe zu tun hat, seit deren Gründung für sich. Man darf, man muss Bartos’ Autobiografie, in der die Kraftwerk-Jahre den Hauptteil bilden, als Ventil sehen, das hier einer geöffnet hat, um den Dampf abzulassen, der lange gestanden hat. Im Buch verpuffen die Sätze langsam, keiner ist wirklich harsch, und im Gespräch schickt Bartos selbst den Äußerungen, die er nicht in der Zeitung lesen möchte, Sätze wie „Wer wäre ich, darüber zu urteilen“ oder „Es steht mir nicht unbedingt zu, das zu bewerten“ voraus.
Das Kraftwerk, das Bartos beschreibt, ist eines, in dem nicht alle gleich waren. Er war gewissermaßen freier Unternehmer, aber Kraftwerk durfte in den Augen Hütters sein einziger Kunde sein. Es ging um Machtfragen, und Bartos war nie gleichberechtigt. Es gibt im Buch einen manchmal beinahe ergreifenden, gleichsam nachträglichen Appell, die Gruppe mehr noch als das Individuum wertzuschätzen; ein Plädoyer für die Kreativität der vielen. Bartos beschwört die gemeinsamen „Soundrides“ durch Düsseldorf. Zu viert im Auto durch die Stadt cruisen, Klangideen entwickeln, dann ins Studio. Er nennt das, was die Bandkollegen und er in stilprägende Alben ummünzten, „autonome Fantasie“ – mit der schufen sie an ihren Synthesizern die letzte große Party der Analogwelt.
Verschwinden hinter der Maschine
Später, sagt Bartos, hätten die Technik-Freaks Hütter und Schneider kompositorische Prozesse an den Computer delegiert. Kraftwerk, findet er, „das war unsere Kommunikation, die wir in Musik umsetzten. Mit der Digitalisierung aber kam der Computer – wir schauten uns nicht mehr in die Augen, sondern auf den Monitor des Computers.“
Das Verschwinden hinter der Maschine war, in Anlehnung an die russischen und italienischen Avantgardisten und Futuristen, ohnehin die Idee von Kraftwerk. Beziehungsweise die von Hütter. Der Selbststilisierung zur Mensch-Maschine kann Bartos heute nichts mehr abgewinnen. Der Mann, der immer noch modern, aber auch zeitlos klingende Elektromusik macht, wirkt in seiner Gegnerschaft zur Digitalisierung wie ein Romantiker. Man folgt ihm bei seinen Ausführungen nicht ungern.
Kreatives Scheitern
„Electric Café“, das heute „Techno Pop“ heißt, erschien 1986 nach etlichen vergeblichen Anläufen und floppte. Kraftwerk hatten ihre kreative Vorreiterschaft abgegeben und seitdem nie wieder erlangt. Man weiß auch hier nicht, ob es der Bartos von heute ist, der das genaue Wissen auch um die kreativen Irrwege hat, oder ob ihm früher bereits alles so klar vor Augen stand wie heute. Bartos ist sich sicher, noch einen anderen Grund für das Versiegen der Innovationskraft Kraftwerks gefunden zu haben, ein kreatives Scheitern (auf übrigens hohem Niveau!), das letztlich in seinen Weggang mündete: der sportliche Wettbewerb. Hütter habe sich mit den Amerikanern messen wollen, den Chart-Dominatoren. Seinen Ehrgeiz stillte Hütter, stillte die gesamte Band, deren letztes Album „Tour de France Soundtracks“ (erschienen 2003) heißt, zusätzlich beim Radfahren. Es ging bisweilen Hunderte Kilometer weit. Bartos fuhr irgendwann nicht mehr mit und ging lieber joggen.
„Im Grunde hat Kraftwerk auch durch den Verzicht auf Konzerttourneen in den 80er-Jahren eine richtige Weltkarriere versemmelt“, sagt Bartos. Er sieht beileibe nicht nur die schlechten Dinge, erwähnt die wilden Jahre, das Jungsein, die Konzertreisen, die gemeinsamen Urlaube. „Wir haben jede Menge erhabenen Quatsch miteinander gemacht“, sagt Bartos. Aber irgendwann brach alles zusammen, nach zähen Jahren. Der Mann, der lange Zeit ein „Roboter“ war, musste sich irgendwann lösen und findet manches an der Inszenierung von Kraftwerk heute fragwürdig.
Musikalische Erstarrung
Dabei ist die Gruppe seit Wiederentdeckung und buchstäblicher Musealisierung – 2012 trat sie im Museum of Modern Arts in New York, danach in vielen anderen Museen auf – kommerziell so erfolgreich wie nie. Aber in künstlerischer Hinsicht hat Bartos recht behalten: Aus der musikalischen Erstarrung ist Kraftwerk nie herausgekommen, die Gruppe hat den Punkt nie mehr erreicht, an dem Neues entstand, bisher nicht Dagewesenes. Aber vielleicht ist Originalität einfach auch grundsätzlich endlich.
Ralf Hütter hat sich nach der Veröffentlichung des Buches übrigens nicht gemeldet. Er habe auch nicht damit gerechnet, sagt Bartos. Seine Enttäuschung kann er schlecht verbergen, er will es wahrscheinlich auch gar nicht.