Hamburg. Einst fing der Kutter Fisch für die DDR. Heute liegt er in Harburg. Abendblatt hat vier Männer besucht, die damals dabei waren.

Nach 56 Stunden schläft Kapitän Franz Plaep im Steuerhaus der „Pottwal“ ein. Solange haben sie ohne Pause gefischt, haben Netz für Netz aus der Nordsee über die Reling auf ihren Hochseekutter gezogen. Erschöpft fallen
Plaep die Augen zu, der Hörer des Funktelefons gleitet ihm aus der Hand. Zum Glück kommt kurz darauf der Maschinenassistent Heinrich Schwarzlose nach oben. Er sieht, dass der Kapitän eingenickt ist. „Franz“, ruft er, „werd mal wieder wach, mein Jung.“ Plaep schreckt hoch. Auf der Brücke kann er nicht weitermachen. Er geht nach unten in seine Kammer. Der Steuermann löst ihn ab. Sechs Stunden später steht er wieder am Steuer. Die Jagd geht unablässig weiter. Fangen, schlachten, verarbeiten.

Auf der „Pottwal“, die heute friedlich im Harburger Überwinterungshafen am Nordufer der Schlossinsel liegt, haben ihre Besatzungen auf der Nordsee Windstärke zehn ausgehalten. Wenn sie zu weit draußen waren, um rechtzeitig bei sechs oder sieben einen Schutzhafen in Dänemark oder England anzulaufen. Sie haben erlebt, wenn Sturzseen von hinten über den Aufbau des Hochseekutters rauschten und das Schiff und sie zu ertränken drohten. Haben staunend und ein wenig stolz festgestellt, wie sich ihr Kutter wieder aufrichtete. Einmal ist Kapitän Plaep auf dem Eis zum Frischhalten ausgerutscht und hat sich den Schädel aufgeschlagen. „Das haben sie dann in Norwegen schön genäht“, wiegelt er heute ab. „Und hübsche Krankenschwestern hatten sie dort auch.“

Die Kutter-Flotte

Vier der Männer, die damals für die DDR auf der „Pottwal“ fuhren, hat das Abendblatt besucht. Im Fischereihafen Sassnitz auf Rügen, dem ehemaligen Sitz der „kleinen Hochseefischerei“ des Fischkombinats, wo die Männer heute noch wohnen. Plaep und Schwarzlose und Kapitän Jürgen Burwitz, alle um die 80 und Eddy Drzymotta, 54, der als Maschinen-Assistent fuhr. Wären die Jahre nicht so weit fortgeschritten, die Älteren würden wieder einsteigen. „Sofort“, sagt Plaep, dem sie nach dem Eisunfall noch an Bord die Haare wegschnitten, um seine Wunde freizulegen.

Sie sind bei Minusgraden gefahren, wenn die See es nicht zuließ, warmes Essen zu kochen oder wenigsten eine Kanne Kaffee oder Tee. Wenn die Finger beim Schlachten so klamm wurden, dass man sie nicht mehr spürte und beim Abschlagen der Dorschköpfe mit dem Fleischerbeil ganze Fingerkuppen verloren gingen. Mancher merkte das wegen der Kälte erst, wenn die Arbeit getan war. Sie haben sich untereinander verarztet und weitergefischt. „Die Fischerei war unser Leben“, sagt Plaep auch für alle anderen.

Die „Pottwal“ in Harburg: Ihr Eigner
John Lührs will sie gern verkaufen
Die „Pottwal“ in Harburg: Ihr Eigner John Lührs will sie gern verkaufen © HA | Rolf Zamponi

Wer im Harburger Binnenhafen an Bord der „Pottwal“ geht, kann diesen Enthusiasmus kaum begreifen. Auf engstem Raum sind im Aufbau des 26,5 Meter langen Kutters acht Kojen untergebracht. Kapitän und Steuermann schlafen in einer Kajüte im Etagenbett, nebenan Maschinist und Bestmann in deutlich weniger als zehn Quadratmetern und der Rest der Besatzung muss sich in der Messe vier Kojen teilen, neben dem Tisch, an dem gegessen wird. Auch der Zahn der Zeit hat der „Pottwal“ zugesetzt.

Kojen für vier Mann in der Messe

Immerhin: Im 350 Kilometer entfernten Sassnitz lässt sich auf der „Havel“, eine der 49 Schwestern der „Pottwal“ sehen, wie man sich an Bord einrichten konnte. Der Kutter, den ABM-Kräfte unter Anleitung ehemaliger Besatzungsmitglieder hergerichtet haben, kann seit 1996 am Kai vor dem Hafen- und Fischereimuseum für einen Eintritt von drei Euro besichtigt werden.

„Wir haben Bettwäsche aufgezogen, damit sich Besucher auf die Kojen setzen können“, erklärt Museumsmitarbeiter
Ulrich Lippmann. Eng bleibt es. „Aber die Schiffe waren damals eine Revolution“, sagt Wolfgang Henckel, der als Kapitän viele Kutter der Serie steuerte.

Franz Plaep sitzt im Steuerhaus des
restaurierten Schwesterschiffs „Havel“
Franz Plaep sitzt im Steuerhaus des restaurierten Schwesterschiffs „Havel“ © HA | Andreas Laible

Der Grund für seine Einschätzung ist einfach. Niemand musste bei Sturm mehr über Deck laufen und sich bei schlechtem Wetter an längsseits gespannten Strecktauen festklammern. „Bei kleineren Kuttern mussten die Ma­trosen dagegen in einem Verschlag vor dem Mast am Bug leben“, sagt Burwitz. Jetzt wird bei schwerer See alles dicht gemacht, Nässe und Kälte können viel besser draußen gehalten werden.

Auch Uwe Richter lobt die Schiffe. „Die Kutter sind besonders seetüchtig“, sagt der Ingenieur und promovierte Meerestechniker, der heute dem Deutschen Hochseefischerei-Verband vorsitzt. Richter hat in den 90er-Jahren eine detaillierte Fachbroschüre über den Bau der Kutterserie veröffentlicht und ist Geschäftsführer der Mecklenburger Hochseefischerei, eines der Nachfolgeunternehmen des ehemaligen Fischkombinats Sassnitz. Seine Verbindung zu den Kuttern reicht weit zurück: „Meine erste Seereise noch als Wissenschaftler für das Institut für Hochseefischerei in Rostock habe ich an Bord eines dieser Schiffe absolviert.“

Devisen einfahren

Den Beweis für seine Einschätzung der Kutter liefert an diesem Nachmittag die „Blauwal“, eine weitere Schwester der „Pottwal“. Ihr Kapitän bringt frisch gefangene Heringe nach Mukran, wo Richter für die holländische „Parlevliet & van der Plas“-Gruppe auch den Fischverarbeiter Euro-Baltic führt. Die „Blauwal“, mit der Richter damals unterwegs war, blieb in Fahrt.

Vor zwei Jahren hat sie die Kutterfisch Cuxhaven vom bisherigen Eigner gekauft. Der Kutter, der wie die „Pottwal“ von 1958 stammt, „liegt noch immer gut im Rennen“, sagt ihr Kapitän Alexander Steffen. Zwar sei die Maschinenleistung für die heute größeren Netze „etwas eingegrenzt. Aber wir fangen in unserer Flotte gut mit“, versichert Kapitän Steffen.

Die Fischer der DDR sind Ende der 50er-, Anfang der 1960er-Jahre als die „Pottwal“ in Fahrt kommt eine besondere Gruppe im Land. Um die 100 Kutter, vor allem die großen der 26,5-Meter-Serie, machen sich auf, um durch den Nord-Ostsee-Kanal in die Nordsee zu gelangen. Sie sollen Devisen einfahren und die Bevölkerung versorgen.

Sie fuhren auf der „Pottwal“ (v. l.): Die Kapitäne Jürgen Burwitz und Franz
Plaep, Maschinist Heinrich Schwarzlose und Assistent Eddy Drzymotta
Sie fuhren auf der „Pottwal“ (v. l.): Die Kapitäne Jürgen Burwitz und Franz Plaep, Maschinist Heinrich Schwarzlose und Assistent Eddy Drzymotta © HA | Andreas Laible

Die Schiffe fahren auch westliche Häfen in Dänemark und Großbritannien an, nicht nur bei Sturm, sondern auch wenn jemand krank wird oder etwas repariert werden muss. Die Besatzungen nehmen sich die Freiheit, in ihrer Freizeit gegen die Mannschaften anderer Länder Fußball zu spielen. In Norwegen beschaffen Kinobetreiber rasch deutsch synchronisierte Filme, wenn die Kutter einlaufen. „Nur einmal ist uns einer dort von Bord gegangen“, erinnert sich Kapitän Plaep. Die anderen bilden eine verschworene Gemeinschaft. Sie bleiben.

Vieles ist möglich, bevor die DDR nach dem Mauerbau die Kontrollen auch der Fischerfamilien enger zieht und alle immer strenger überwacht. So sparen Besatzungen nicht nur ihre Tagessätze, sondern auch bei ihren Verpflegungsrationen und bieten Bier und in Skandinavien vor allem Hochprozentiges an. Die Devisen werden zum Einkaufen genutzt. „Wir haben vor der Durchfahrt durch den Kanal in Kiel-Holtenau bestellt. Die Lieferanten kamen dann in Brunsbüttel an Bord“, erinnert sich Schwarzlose.

Bis zu 2000 Mark monatlich

Der heute 79 Jahre alte Plaep, der auf der „Pottwal“ vier Jahre erster Mann war, erinnert sich, dass in Cuxhaven mitunter einfach mal die Maschine Schaden nahm. „Da mussten wir einlaufen und wer Verwandte im Westen hatte, hat sie besucht. Wir sind sogar bis zur Hamburger Reeperbahn gekommen.“ Irgendwann wird das der Fangleitung in Sassnitz zu viel. „Es müsse langsam Schluss sein mit dem Zweithafen Cuxhaven, haben die uns gesagt.“

Kapitäne wie er, Burwitz oder Henckel verdienen zu DDR-Zeiten bis zu 2000 Mark monatlich. Genau wie überall in der Fischerei erhalten die Besatzungen Fangprämien, die zusätzlich motivieren sollen. „Die Gehälter waren der Hauptgrund, zur Fischerei zu gehen. Es war ein begehrter Job“, sagt Burwitz. „Nach den Leuten im Uran-Bergbau waren wir die Bestbezahlten im Land.“

Arbeit auf Seitenfängern ist ein Knochenjob

Dennoch: Fischen gehörte damals und auch heute noch zu den gefährlichsten Berufen der Welt, wie etwa die britische Versicherung Churchill Insurance zuletzt recherchiert hat. Die Arbeit auf Seitenfängern ist dazu ein Knochenjob. Mit allen Mann – nur der Kapitän bleibt auf der Brücke – stehen sie an Bord der „Pottwal“ hintereinander und ziehen mit schierer Muskelkraft und der Hilfe der Schiffsbewegungen die Netze nach oben. Das Netz ist an der rechten Seite des Kutters festgemacht. Bewegt sich der Rumpf nach links, zieht er die Beute nach. Die Bewegung des Kutters hilft so, den Fang mit über die Reling zu holen: Eine Technik, die Kraft spart.

Erst von Ende der 1960er-Jahre an kommen Netzaufholwinden an Bord, die die Mannschaften entlasten. „Weil man nicht mehr anpacken musste und sich nun geruhsam zurücklehnen konnte, haben wir die Anlage Oma getauft“, erinnert sich Henckel. Auf der „Pottwal“-Schwester „Havel“ lässt sich die Winde besichtigen. Für die vier Männer, die jetzt nach einem Besuch auf dem Kutter wieder von Bord klettern, war sie ein Zeichen für die Zukunft ihrer Arbeit.

Mit der Wende kommt der Einschnitt

Mit der Wende jedoch kommt der Einschnitt. Die Treuhand wickelt das Fischkombinat Sassnitz ab und verkauft die Kutter. Die Kapitäne Plaep und Burwitz und Heinrich Schwarzlose, der sich vom Maschinen-Assistenten zum Ingenieur hocharbeitet, bleiben der See treu.

Plaep stellt, nachdem er noch für die DDR auf großen Trawlern fährt, nach der Wende nach Sassnitz verkaufte Fahrgastschiffe neu in Dienst. Schwarzlose geht von 1990 bis 2003 zum Schiffs-TÜV Germanischer Lloyd in Hamburg. „Alle wollten damals nach Westen“, erinnert er sich. Er wechselt nach Stettin. Kapitän Burwitz, von 1979 bis 1985 Steuermann und Kapitän auf der „Pottwal“, darf nach einem Hörsturz nicht mehr fahren. Er heuert bei der Fangleitung an, wechselt später zum DDR-Gewerkschaftsbund und 1992 in den Ruhestand. Nur Drzymotta, der vor der Wende zur Armee eingezogen wird, lebt dagegen heute „auf der Straße“, wie er augenzwinkernd sagt. Er fährt Tankwagen für eine dänische Spedition.

Schiff der Serie dient in Ralswiek als Gaststätte

Zu den von der Treuhand vermarkteten Schiffen gehört auch die „Pottwal“. Sie kommt über einen Zwischenhändler nach Lübeck. Dort übernimmt sie ein Bekannter des Hamburger Maschinenbau-Ingenieurs John Lührs. 1993 holt Lührs das Schiff nach Harburg und restauriert es für den Eigner. „Wir sind mit ihm 1995 beim Hafengeburtstag gefahren“, erinnert er sich. Sogar einen gebrauchten Motor hat er aufgetrieben und ihn gut verpackt. Per Handschlag wird Lührs 2009 Eigner, als Ausgleich für viele geleistete Arbeitsstunden. Seit 2013 liegt die „Pottwal“ wieder in Harburg, im Überwinterungshafen.

Lührs würde gern verkaufen. An jemanden, der den Kutter genauso schätzt wie er: „Ich möchte, dass das bleibt, was wir an dem Schiff gemacht haben.“ Als Verhandlungsbasis gelten 29.000 Euro. Der Rumpf sei intakt, versichert er, der Stahl zwischen 8,2 und 9,6 Millimeter dick. „Das ist die Basis, um den Kutter zu restaurieren“, sagt der Ingenieur, der an der Fachhochschule am Berliner Tor studiert hat. Beim Einbau der Hauptmaschine würde er einem neuen Eigner in jedem Fall helfen. Derzeit rechne eine Gruppe aus Hannover und Brandenburg alles durch. Die Entscheidung steht aus.

Die Zeit des Kuttertyps läuft ab

Uwe Richter, der Chef der Mecklenburger Hochseefischerei, der wohl wie kein Zweiter mit den Kuttern vertraut ist, würde sich über ein positives Ergebnis sicher freuen. Zwar liegt mit der „Narwal“ noch ein Schiff der Serie seit Jahren ungenutzt in Sassnitz, dient ein Kutter an der Ostseeküste in Ralswiek als Gaststätte und mindestens einer hilft, im Mittelmeer Flüchtlinge zu retten. Viele aber sind es nicht mehr. „Sie haben in 60 Jahren Fischereigeschichte in der DDR geschrieben“, sagt Richter. „Da schwingt bei mir schon Wehmut mit, wenn sie verschwinden.“

Doch die Zeit des Kuttertyps läuft ab. Die Technik hat sich überholt. Der Fang wird heute über das Heck, einfacher und sicherer, an Bord gezogen. „Seitenfänger“, ist Richter sicher, „baut heute kein Mensch mehr.“