Hamburg. Die Schuld für den Abbruch der Sondierungsgespräche in Berlin sehen die meisten Politiker im Norden bei der FDP.
Hamburgs Bürgermeister ließ sich Zeit mit seiner Einschätzung zum Aus der Jamaika-Sondierungen. Erst am Montagabend meldete Olaf Scholz sich zu Wort – und blieb auf SPD-Parteilinie. Er gehe von Neuwahlen im kommenden Jahr aus, sagte er. Das Scheitern sei bedauerlich, da es einen klaren Auftrag für die Jamaika-Parteien gegeben habe, eine Regierung zu bilden, so Scholz. „Auch heute - einen Tag später - kann man die Gründe, die dafür angeführt werden, immer noch nicht nachvollziehen“, erklärte er.
Nachvollziehen konnte auch die Zweite Bürgermeisterin den Schritt der FDP nicht. Katharina Fegebank machte ihrem Ärger bereits am Montagmorgen via Twitter Luft: "Es kommt nur äußerst selten vor, dass ich richtig sauer bin. Heute ist es so. Aber so richtig", twitterte sie.
Dressel nennt Lindner und Kubicki "Zocker"
Die FDP habe sich durch den Abbruch der Verhandlungen blamiert, sagte der Hamburger SPD-Fraktionsvorsitzende Andreas Dressel. „Die Herren Lindner und Kubicki haben sich wie Zocker um die Zukunft unseres Landes aufgeführt, das war verantwortungslos“, sagte Dressel am Montag. Der SPD-Parteivorstand erteilte jedoch am Montag einer neuen großen Koalition einstimmig eine Absage. Dressel äußerte sich ablehnend: „Wir haben am 24. September eben gerade keinen Regierungsauftrag und kein Mandat für eine neue große Koalition erhalten.“
Auch Anjes Tjarks, Fraktionschef der Grünen in Hamburg ging hart mit den Liberalen ins Gericht: „Wenn die FDP in einer solch schwierigen Lage Starrsinn an den Tag legt und sich mehr auf Selbstinszenierung konzentriert als darauf, ein vernünftiges, für alle tragbares Ergebnis bei den Sondierungen zu erzielen, ist das schon mehr als enttäuschend.“ Die FDP solle sich fragen, inwiefern sie überhaupt bereit sei, Regierungsverantwortung zu übernehmen. „Es ist sehr schade, dass die Liberalen nicht in der Lage sind, zuerst an das Wohl des Landes zu denken, und es vorzieht, sich aus parteitaktischen Gründen aus der Verantwortung zu ziehen.“
Suding rechtfertigt Abbruch: "Notbremse gezogen"
Von Verantwortung und von Kompromissen sprach derweil auch Katja Suding. Aus Verantwortung gegenüber den eigenen Wählern "haben wir die Notbremse gezogen", sagte die FDP-Politikerin. "Wir waren bereit, Kompromisse einzugehen. Die Widersprüche und Unterschiede waren aber bis ganz zum Schluss unüberbrückbar groß“, sagte Suding. Eine liberale Handschrift sei am Ende der Verhandlungen nicht mehr zu erkennen gewesen.
Suding sieht die Schuld für das Scheitern bei Union und Grünen. Beide seien in zentralen Punkten nicht ausreichend kompromissbereit gewesen. Als Beispiele nannte sie die Bildungspolitik und eine finanzielle Entlastung der Bürger. "Wir haben da ja schon Abstriche gemacht“, erklärte Suding. "Aber wir haben gefordert, dass der Soli innerhalb dieser Legislaturperiode abgeschafft wird. Das hat man uns nicht zugestanden."
Heintze appelliert an SPD: Pflicht zu stabiler Regierung
Hamburgs CDU-Chef Roland Heintze zeigte sich von der FDP "sehr enttäuscht": "Alle wussten um ihre große Verantwortung für die Menschen in unserem Land. Und gerade die FDP hat im Wahlkampf viel von Mut und Zuversicht gesprochen. Das fehlte Lindner und Co. am Ende", sagte Heintze am Montag.
Und wer wird nun regieren? Doch wieder eine große Koalition? "Ich kann meinen Appell an die SPD nur wiederholen", sagte Hamburgs CDU-Chef Roland Heintze. Eine "staatstragende Partei" müsse in einer solchen Situation zwingend Verantwortung übernehmen und Kompromisse für eine Regierung erörtern. "Wir können doch nicht so lange wählen lassen, bis uns das Ergebnis passt", sagte Heintze. "Gleichzeitig haben wir die Pflicht, eine stabile Regierung im größten Land Europas zu bilden. Für alles andere haben die Wähler zu Recht kein Verständnis.“
Linke blickt auf Neuwahlen, AfD sieht eigene Positionen bei FDP
Die Fraktionsvorsitzenden der Hamburger Linken, Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir, kommentierten den Abbruch der Sondierungsgespräche nur im Hinblick auf mögliche Neuwahlen. So hätten "soziale Themen" für alle Parteien in den Sondierungsgesprächen "praktisch keine Rolle gespielt". Bei etwaigen Neuwahlen werde man "wieder einen starken Wahlkampf mit und für die Menschen machen, die in diesem skurrilen Sondierungstheater keine Stimme hatten".
Alexander Wolf, stellvertretender Landessprecher der AfD in Hamburg, bezeichnet das Scheitern der Sondierungsgespräche als "historische Zäsur" und bilanziert: "Angela Merkel hat abgewirtschaftet." Mitverantwortlich dafür, dass die Gespräche zu einer möglichen Jamaika-Koalition abgebrochen wurden, sei auch die AfD: Sie säße Union und FDP "permanent im Nacken", die FDP habe sogar "einige AfD-Positionen übernommen".
Schleswig-Holsteins Jamaika-Bündnis nicht in Gefahr
In Schleswig-Holstein betonen Spitzenpolitiker der drei Jamaika-Koalition die Stabilität ihres Bündnisses. „Das Aus für Jamaika in Berlin ist sehr bedauerlich, wird aber ohne Folgen für die Landesregierung und die zwischen den drei Koalitionsparteien verabredete Politik bleiben“, sagte Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) am Montag. Das Kieler Bündnis gründe sich auf einem anderen Fundament als die gescheiterten Berliner Pläne. CDU, Grüne und FDP arbeiteten im Norden vertrauensvoll zusammen. „Das wird so bleiben.“
Auch Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister Robert Habeck sieht keine Auswirkungen auf die Koalition. "Für Schleswig-Holstein gilt: Jamaika steht", sagte Habeck am Montag. "Wir haben uns vor Beginn der Sondierungsgespräche in die Hand versprochen, dass sich ein Scheitern nicht auf Schleswig-Holstein auswirkt." Gleichzeitig warnte er vor einem zu schnellen Rufen nach einem neuen Urnengang. „Neuwahlen sind wie eine unkontrollierte Sprengung. Keiner kann vorhersagen, wie das am Ende ausgeht.“
FDP-Landeschef Garg wies auf das „wechselseitige Vertrauen“ unter den Koalitionären hin. Daran ändere auch „das bedauerliche Scheitern der Sondierungsgespräche“ in Berlin nichts. Dies habe allerdings nicht „an der Böswilligkeit einer Partei gelegen“. Die hätten lieber öfter nach Kiel sehen sollen.
Bewertung des Jamaika-Aus' in Berlin fällt unterschiedlich aus
Auseinander gingen die Meinungen aber bei der Bewertung der Berliner Geschehnisse. Die entscheidenden Fragen seien im Grunde geklärt gewesen. Selbst in der Migrationspolitik, wo es große Hürden zwischen Union und Grünen gegeben habe, sei ein Kompromiss absehbar gewesen, sagte CDU-Landeschef Günther. „Von daher hat mich der Ausstieg der FDP am Ende schon wirklich sehr, sehr überrascht, gewundert und regelrecht geschockt.“ Eine Minderheitsregierung der Union hält er für „völlig undenkbar“. Noch habe er die Hoffnung, Neuwahlen aber vermeiden zu können.
Landtags-Fraktionschef und FDP-Vize Wolfgang Kubicki widersprach der Darstellung, die Sondierer hätten bereits kurz vor einer Einigung gestanden. „Es lag nichts auf dem Tisch.“ Die Parteien „waren in keinem Punkt wirklich vorangekommen“. Mehr als 120 Punkte, darunter „zentrale Fragen“, seien bis zum Ende noch strittig gewesen. CDU, CSU, Grünen und FDP habe eine gemeinsame Idee und ein Leitmotto gefehlt.
Die SPD-Gremien haben am Montag beschlossen, nicht erneut in eine große Koalition einzutreten. „Die Ausgangslage für die SPD hat sich nicht verändert. Wir haben kein Mandat für eine erneute große Koalition“, sagte SPD-Vize Ralf Stegner. Für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sehe er keine Zukunft mehr. „Sie ist definitiv gescheitert.“ Aber auch ohne Merkel werde die SPD keine große Koalition eingehen.
Auseinandersetzung schwelt bei Facebook und Twitter weiter
Auf Facebook und Twitter gingen die Auseinandersetzungen zwischen Politikern von FDP und Grünen weiter. „Die vielen herablassenden Kommentare der Grünen und auch einiger Unionsvertreter über die FDP machen noch einmal sehr deutlich, dass diese schwierige Entscheidung wohl richtig war“, twitterte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP im Landtag, Christopher Vogt. Der Grünen-Landesvorsitzende Steffen Regis kommentierte auf Facebook: „Die Bundes-FDP sprengt die Sondierungen und man reibt sich beim inhaltsleeren Statement verwundert die Augen, was eigentlich ihr Problem war.“
Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) schlug als Alternative eine Minderheitsregierung vor. „Bundeskanzlerin Merkel täte gut daran, die Option auf eine Minderheitsregierung nicht leichtfertig zu verwerfen“, sagte SSW-Fraktionschef Lars Harms.
Karin Prien hat einen pragmatischen Appell parat
Für AfD-Fraktionschef Jörg Nobis ist das „Scheitern von Jamaika in Berlin auch die Blaupause für ein Scheitern von Jamaika in Kiel“. Grüne und FDP verträten in zentralen Fragen unterschiedliche Positionen. „In Schleswig-Holstein werden die weltanschaulichen Differenzen zwischen FDP und Grünen bislang nur dadurch überbrückt, dass die Akteure noch persönlich einen guten Draht zueinander haben.“
Karin Prien (CDU), die nach sechs Jahren Bürgerschaft im Sommer von Hamburg nach Kiel gewechselt war, meldete sich derweil mit einem pragmatischen Appell zur Wort. "Übernehmt jetzt gefälligst Verantwortung, das gilt jetzt für alle Traditionsparteien", schrieb Schleswig-Holsteins Bildungsministerin am Montag auf Facebook.