Hamburg. „Kindeswohl geht oft verloren“, hatte Melanie Leonhard gesagt. Juristen sehen sich beleidigt und diffamiert

Urteilen die Familiengerichte am Wohl der Kinder vorbei? Über diese Frage ist ein heftiger Streit zwischen Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) und den obersten Richtern der Stadt entbrannt. In einem offenen Brief kritisieren die Oberlandesgerichtspräsidentin Erika Andreß und Amtsgerichtschef Hans-Dietrich Rzadtki die Aussagen Leonhards aus einem Abendblatt-Interview in harten Worten als „sachlich falsch“ und „persönlich beleidigend“.

Die Sozialsenatorin hatte in dem Interview in der vergangenen Woche gesagt, das Wohl der Kinder gehe vor Gericht oft verloren. Die Beteiligten in den Verfahren, in denen es etwa um die Inobhutnahme wegen körperlicher Gefahr geht, seien zu stark auf die Rechte der Eltern fixiert. Die Kinder hätten dagegen keine eigene Rechtsposition – „das hat dramatischere Folgen, als ich hier ausdrücken kann“, sagte Leonhard. Zu wenige Richter nähmen außerdem an freiwilligen Fortbildungen teil, sondern verließen sich vor allem auf die Empfehlungen von Gutachtern.

Die Spitzenjuristen Rzadtki und Andreß nennen dies in ihrem Schreiben nun eine „unrichtige Behauptung“. Die Gerichtspräsidenten werfen der Senatorin vor, mit ihren öffentlichen Äußerungen der „Sensibilität der Materie“ nicht gerecht geworden zu sein. Von einer mangelnden Kompetenz bei den Richtern könne keine Rede sein. Und sie betonen ausdrücklich: „Das Kindeswohl ist für Familienrichter das höchste Gut – jeden Tag und jede Stunde.“ Deshalb seien die Vorwürfe der Senatorin verletzend, und deshalb müssten sie sich „nach Rücksprache mit Vertretern der Familiengerichte“ zu Wort melden.

Ein Sprecher der Sozialbehörde sagte, man äußere sich grundsätzlich nicht zu offenen Briefen. „Die Senatorin Melanie Leonhard steht aber zu ihren Worten und zu ihrer Position, und das haben wir auch deutlich gemacht.“ Leonhard hatte betont, dass es nach den Todesfällen von Kindern wie Yagmur, Chantal, Lara-Mia und Taylor insgesamt noch „Baustellen“ im System der Jugendhilfe gebe. Auch die bisher bekannten Fakten zu dem Mord an der zweijährigen Ayesha in Neugraben im Oktober würden Fragen in Richtung des Jugendamtes aufwerfen.

Auch von Anwälten ist Kritik aus derselben Richtung zu hören, die auch Leonhard äußerte. Ein Streitpunkt sind die fehlenden verbindlichen Maßstäbe, nach denen etwa externe Experten ihre Gutachten erstellen – und Richter oft entsprechend urteilen. Senat und Gericht beschäftigen gleichermaßen besonders die Fälle, in denen Kinder immer wieder in Obhut genommen werden müssen, nachdem sie etwa nach einer Zeit bei Pflegeeltern wieder den leiblichen Eltern zugesprochen wurden. Darauf zielte auch Leonhards Kritik an den überbetonten Elternrechten. Die Gerichtspräsidenten schreiben dazu: „Dass Kinder nach der Herausnahme aus der Familie keine heile Welt erwartet, dass für den künftigen Verbleib nur die Wahl zwischen schlechten Möglichkeiten besteht, treibt uns doch alle um.“ Wo die Kinder nach einer Inobhutnahme untergebracht würden, sei aber Sache der Jugendämter.

Insgesamt arbeiten in Hamburg nach den aktuellsten Zahlen vom Juni 86 Familienrichter an den Amtsgerichten und am Oberlandesgericht. Zu der Kritik, dass freiwillige Fortbildungen zu wenig genutzt werden, gibt es Daten – die Teilnehmerzahlen bei Veranstaltungen der Justizbehörde in den vergangenen vier Jahren sprechen eher für ein reges Interesse der Hamburger Richter an Weiterbildung.

Im Mai 2014 ging es etwa bei einer Veranstaltung der Justizbehörde um „Gewalt in der Familie – erkennen, reagieren, verhindern“. Daran nahmen 38 Familienrichter teil. Im November 2014 waren es 34 Richter, die sich zu einer zweitägigen Veranstaltung der Justizbehörde zum Thema „Umgangsrecht im Spektrum zwischen Wechselmodell und Umgangsbeschluss“ einfanden. Eine Woche später waren es 29 Familienrichter beim Thema „Psychische Folgen von Kindesmisshandlungen erkennen“. Im Juni 2016 waren es 29 Teilnehmer bei der Veranstaltung: „Das Kind im Mittelpunkt – und doch aus dem Blick?“ Im Januar 2017 nahmen elf Richter an der Veranstaltung teil: „Mit Kindern über schwierige Themen sprechen“, im März 2017 kamen 34 Teilnehmer zum „Überblick über psychische Krankheitsbilder und Persönlichkeitsstörungen“.

Weiter heißt es vom Senat zur Entwicklung des Austausches zwischen Familienrichtern und Jugendamtsmitarbeitern an den Amtsgerichten seit Juli 2015: „Es finden überwiegend jährliche Treffen zwischen den Familiengerichten und den Mitarbeitern der Jugendämter und freien Träger zu einzelfallübergreifenden Themen statt.“

Für die Fortbildung von Familienrichtern gilt: Die Teilnahme an den landesinternen sowie an den externen Schulungen der Deutschen Richterakademie und des Nordverbundes ist für die Juristen kostenlos. Sie werden dafür unter Fortzahlung der Bezüge freigestellt. Sie werden aber während der Dauer der Fortbildung nicht aus dem Turnus genommen. Ihnen werden also auch während der Dauer der Fortbildung eingehende Verfahren zugeteilt. Und: Die Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen kann bei Beförderungen Berücksichtigung finden.