Hamburg. Eine gehörlose Frau hat einen Ausbildungsplatz gefunden. Sie ist alleinerziehend, ihre Mutter kümmert sich um die Söhne.

Wenn bei Christine Heinz in ihrer Wohnung in der Innenstadt jemand an der Tür klingelt, dann blinkt es im Wohnzimmer. Hören kann die 53-Jährige die Türklingel nicht. Als sie zwei Jahre alt war, verlor Christine Heinz nach einer Hirnhautentzündung ihr Gehör. Erst mit 16 Jahren hat sie die Gebärdensprache erlernt. „In der damaligen Zeit hieß es noch, Gebärdensprache sei schlecht für die Entwicklung. Schade, dass meine Eltern nie freiwillig die Gebärdensprache gelernt haben.“ Eine Gebärdendolmetscherin übersetzt ihre Sätze für den Reporter.

Christine Heinz ist Gebärdensprachdozentin und Kommunikationsassistentin. Sie ist zweifache Mutter und hat zwei Enkelkinder. Sie hat in ihrem Leben viele Hürden gemeistert. Jetzt aber weiß sie nicht mehr weiter. Auf ihrer Visitenkarte steht ein Spruch der taubblinden amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller: „Blindheit trennt von den Dingen, Taubheit von den Menschen.“

Gestalterin für visuelles Marketing

Christine Heinz steht seit einem halben Jahr jeden Morgen um 4.40 Uhr auf und fährt dann mit dem Auto zu ihrer Tochter Carina (26) nach Barsbüttel. Die alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Jungs muss nämlich um 5.30 Uhr aus dem Haus, weil sie um sechs Uhr an ihrem Arbeitsplatz bei Ikea in Moorfleet sein muss. Die Großmutter weckt wenig später Lennard und Laurin und bringt sie zwischen sieben und acht Uhr in den Kindergarten in Barsbüttel.

Carina ist ebenfalls gehörlos. Sie hat die Gebärdensprache erlernt, eine Verbindung aus Gestik, Mimik und lautlos gesprochenen Wörtern. Mit 13 Jahren bekam Carina zudem ein Cochlea-Implantat (CI) im Kopf eingesetzt. Es übernimmt die Funktion der Haarzellen, die im Normalfall die akustische Energie in elektrische umwandeln, welche dann vom Hörnerv an das Gehirn gesendet wird. Ihr ältester Sohn kann normal hören, der jüngere bekam mit neun Monaten zwei CI eingesetzt.

Carina macht seit Mai eine Ausbildung bei Ikea zur Gestalterin für visuelles Marketing. „Sie ist die einzige Gehörlose in Deutschland, die diese Ausbildung machen kann“, sagt Christine Heinz. Das schwedische Unternehmen bildet erstmals eine Gehörlose aus und lasse sich, sagt Christine Heinz, die dreijährige Ausbildung rund 300.000 Euro kosten. Denn bei Teambesprechungen und in der Berufsschule ist regelmäßig eine Gebärdendolmetscherin an Carinas Seite. Nun aber weiß Christine Heinz nicht mehr weiter. Sie liebt ihre beiden Enkel, aber sie weiß, dass sie nicht die Kraft hat, um noch zweieinhalb Jahre lang jeden Morgen um kurz nach fünf nach Barsbüttel zu fahren.

Christine Heinz hat ein Jahr lang alles versucht, um Unterstützung für ihre Tochter zu bekommen, damit die ihre einmalige Chance der Ausbildung bei Ikea nutzen kann und nicht wieder auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. „Mein Gefühl sagte mir zwar gleich zu Beginn, dass es ein harter Kampf werden wird.“ Aber irgendwie hat sie in ihrem Leben ja alles geschafft. Ein Jahr später sagt Christine Heinz: „Wir sind zu keinem Ergebnis gekommen und fühlen uns von den Ämtern alleingelassen. Keiner fühlt sich wirklich zuständig für uns.“

Umfangreiches Netzwerk

Im Sommer 2016 hatte sie ihr erstes Gespräch mit dem Jugendamt in Barsbüttel und fragte nach einer zweistündigen Hilfe am Morgen für ihre beiden Enkel. Denn: „Meine Tochter kann ihre Ausbildung nur machen, wenn die Betreuung ihrer Kinder gewährleistet ist.“ Die Antwort? „Ein paar Tage später bekam ich eine Mail, ich solle mich mit dem Gehörlosenverein in Verbindung setzen.“ Christine Heinz ist noch heute erstaunt, dass jemand meinen könnte, ein Gehörlosenverein sei auch für die Betreuung von Kindern zuständig.

„Ich nahm dann Kontakt mit Tagesmütter e.V. auf, aber die betreuen Kinder nur von acht bis 16 Uhr bei sich zu Hause.“ Sie benachrichtigte die zuständige Gleichstellungsbeauftragte und informierte auch die Familienkoordinatorin über ihren Fall. „Sie haben sich bemüht, sie verfügen zudem über ein umfangreiches Netzwerk, aber konnten uns letztlich bisher auch nicht helfen.“ Jede Kontaktaufnahme mit Behörden und Verbänden ist schwierig, weil Christine Heinz nicht telefonieren kann. Weil sie, wenn sie dann endlich einen Termin vereinbart hat, immer eine Gebärdendolmetscherin mitnehmen muss. Und weil sich dann jedes Mal die Frage stellt, wer deren Kosten übernimmt.

Auch auf Anzeigen kam nicht eine Rückmeldung

Christine Heinz wandte sich an Wohlfahrtsverbände, an Malteser und Diakonie. „Die haben sehr viele einzelne Hilfsprojekte, konnten aber in unserem speziellen Fall auch nichts tun.“ Schließlich schaltete sie Anzeigen in Zeitungen: „Es kam nicht eine einzige Rückmeldung.“ Sie erinnerte sich an eine Bekannte aus der Ukraine, die Carina schon als kleines Kind kannte. „Sie wäre nach Deutschland gekommen und hätte auch bei meiner Tochter wohnen können, aber das Amt wollte die Kosten nicht übernehmen, weil sie keine anerkannte Tagesmutter ist.“

Was sagt die Behörde zu dem Fall, schließlich gibt es für Eltern einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung? „Wir haben es hier wirklich mit einem sehr speziellen Fall zu tun“, sagt Christian Restin, im Kreis Stormarn zuständig für Kinderbetreuung. „Aber wir wollen jetzt noch einmal mit allen Beteiligten nach einer Lösung suchen.“ Christine Heinz sagt: „Alle reden immer davon, wie wichtig es ist, dass jeder Mensch eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommt. Diese Stelle ist für meine Tochter eine einmalige Möglichkeit. Ich weiß nicht, was wir jetzt noch tun können, damit meine Tochter ihre Ausbildung zu Ende machen kann.“