Hamburg/Karlsruhe. Die Stadtstaaten Berlin und Hamburg müssen wegen der korrigierten Bevölkerungszahlen Millionen-Einbußen hinnehmen.
Die Richter wollten es dann doch ganz genau wissen: Statt bis 13.30 Uhr, wie ursprünglich vorgesehen, verhandelte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz seines Präsidenten Andreas Voßkuhle bis in den frühen Abend. Und das hieß für die Juristen vor allem, sich durch Befragung von Sachverständigen mit den Details der Statistik vertraut zu machen.
Die Länder Hamburg und Berlin klagen vor dem höchsten deutschen Gericht gegen den Zensus 2011, mit dem bundesweit die Zahl der Bevölkerung, der Gebäude und Wohnungen erhoben wurde. Das Ergebnis der Volkszählung ist für die beiden Stadtstaaten dramatisch: Für Hamburg wurden beim Zensus zum Stichtag 9. Mai 2011 exakt 1.706.696 Einwohner ermittelt – gut 82.000 Menschen weniger als laut der Bevölkerungsfortschreibung. Im größeren Berlin betrug das Minus rund 180.000 Einwohner. Weniger Einwohner heißt weniger Geld aus dem Steueraufkommen: Nach der neuen, vorerst auch gültigen Berechnungsgrundlage verliert Hamburg nach Angaben der Finanzbehörde im Länderfinanzausgleich rund 117 Millionen Euro pro Jahr. Und es geht nicht nur ums Geld: Hamburg hat aufgrund der geringeren Bevölkerungszahl bei der Basisberechnung einen Sitz im Bundestag verloren.
Der Zensus 2011 arbeitete mit Stichproben
In der Anhörung ging es am gestrigen Dienstag in Karlsruhe in erster Linie um die statistischen Verfahren, die zur Datenerhebung angewandt wurden. Auf den ersten Blick überraschend war der Zensus 2011 keine sogenannte „Vollerhebung“, bei der – wie zuletzt bei der Volkszählung 1987 im Westen – alle Haushalte aufgesucht und befragt wurden. Der Zensus 2011 arbeitete mit Stichproben – tatsächlich wurden nur knapp zehn Prozent der Bevölkerung befragt, um Wissenslücken zu schließen und Unstimmigkeiten zu entdecken. Im Übrigen nutzten die Statistiker die vorhandenen Daten der Einwohnermeldeämter oder der Agentur für Arbeit.
Kommentar: Hamburgs Klage ist richtig
Da die amtlichen Melderegister mitunter fehlerhaft sind, griffen die Statistiker auf mehrere Korrekturverfahren zurück. Bei Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern kam es unter anderem zu Stichproben. Kleinere Gemeinden konnten die Meldedaten aus eigenen direkten Befragungen an Wohnanschriften mit nur einer Wohnung korrigieren. Hamburg und Berlin gehen davon aus, dass das Gesamtverfahren zur Ermittlung der Einwohnerzahl nicht mit dem Grundgesetz in Einklang steht.
Finanzsenator Tschentscher sieht Ungleichbehandlung
„Die Berechnung ist methodisch unsicher und hat zu keinen plausiblen Ergebnissen geführt“, führte Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD), der Hamburg in Karlsruhe vertritt, vor dem Gericht aus. „Das Zensus-Gesetz war nach unserer Einschätzung keine verfassungsgemäße Grundlage für eine Neufestsetzung von Einwohnerzahlen, auf denen viele Verteilungen von Lasten und Ansprüchen im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland beruhen“, so der Senator. „Die Einwohnerzahlen müssen sicher, einheitlich und nachvollziehbar ermittelt werden.“
Tschentscher sieht unter anderem eine Ungleichbehandlung von Städten und kleinen Gemeinden aufgrund der unterschiedlichen statistischen Verfahren, die angewandt wurden. „Dies widerspricht den Geboten der interkommunalen und föderalen Gleichbehandlung“, sagte Tschentscher. Der SPD-Politiker verweist darauf, dass das beim Zensus 2011 federführende Statistische Bundesamt mittlerweile eingeräumt habe, dass die für größere Städte angewandte Methode auch bei kleinen Gemeinden zu einer höheren Korrektur der Einwohnerzahlen nach unten geführt hätte. Das Argument der Stadtstaaten: Da 90 Prozent aller Gemeinden 2011 zu den kleinen Gemeinden zählen, ist der aus der unterschiedlichen Methode resultierende Fehler erheblich und führt zu systematischen Verzerrungen im Verhältnis der Bundesländer untereinander.
Die Bundesregierung hält den Zensus 2011 für einen Erfolg
Kritisch sehen die Länder Hamburg und Berlin außerdem, dass die Ermittlung der Einwohnerzahl einer Gemeinde nicht überprüft werden kann, weil die Daten der Statistischen Ämter nicht eingesehen werden dürfen und zudem nach einer gesetzlich festgelegten Frist gelöscht werden. „Das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz, etwa durch eine gerichtliche Überprüfung, wird dadurch ausgehebelt“, so Tschentscher.
„Aus Sicht der Bundesregierung war der Zensus 2011 erfolgreich und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden“, sagte Innenstaatssekretär Klaus Vitt. In einem freien Land könne die Einwohnerzahl nie exakt ermittelt werden. „Es ist immer nur eine Annäherung möglich. Dafür ist das beste, damals verfügbare Verfahren gewählt worden.“
Gegen 17.30 Uhr beendete der Zweite Senat die Anhörung. Erst in einigen Monaten wird mit einem Urteil gerechnet. Eine offene Frage ist, welche Konsequenzen sich ergeben, falls die Richter den Zensus 2011 tatsächlich beanstanden. Wären Korrekturen möglich oder müsste die Volkszählung dann wiederholt werden? Welche finanziellen Folgen würden sich ergeben? Bis zum Urteil ruhen jedenfalls auch die rund 340 Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, die gegen den Zensus angestrengt wurden.