Hamburg. Feiertage in der Elbphilharmonie: Bevor die US-Band im Großen Saal spielte, wurde Gitarrist und Komponist Bryce Dessner gewürdigt.

Zu den Nachteilen der elbphilharmonischen Musikspielwiese gehört das glatte Parkett, und so war Matt Berninger während der ersten Lieder heftig damit beschäftigt, seine Stiefel zu präparieren. Irgendwann ließ er das mit dem Tape aber sein, es nutzte ja nichts. Und sollte die Bestuhlung im Großen Saal nicht allzu sensibel auf die trittfesten Ausflüge des Sängers reagiert haben, dann hat das Interieur seine vielfältige Tauglichkeit allemal unter ­Beweis gestellt: Das hier, das ist auch das Zuhause des Rock’n’Roll.

Wenn es denn überhaupt jemanden gab, der daran noch zweifelte. Im Rahmen des neu aufgelegten Formats „Reflektor“, das bei seiner Premiere von Bryce Dessner kuratiert wurde, trat die US-amerikanische Rockband The National in der Elbphilharmonie auf. Bei der ist Dessner im Hauptberuf Songschreiber und Gitarrist. Der Auftritt in Hamburg war gleichzeitig auch Auftakt der National-Europatournee. Ein denkwürdiger.

Am Ende singen alle „Vanderlyle Crybaby Geeks“

Was unter anderem daran lag, dass es nicht weniger als 53.000 Menschen waren, die Tickets für das Konzert ­erwerben wollten. Nur wenige von ­ihnen durften das dann am Ende auch, und sie waren für diesen Abend Gewinnertypen: die oberen 2000 des Indierock. Bierdosenleerer und Volltätowierte auf der Rolltreppe, die einem zweistündigen Konzert ihrer Lieblingsband entgegenstrebten, das war am Sonnabend das Anti-Klassik-Auditorium. Und National-Vorsteher Berninger, ein auf der Bühne notorisch unruhiger ­Geselle, ein der Aufgabe angemessener Rock-Exzentriker, der Dampf machte.

Denn von jetzt auf gleich wird aus der Edel-Etagere der Elbphilharmonie ­natürlich keine brodelnde Suppe aus Blut, Schweiß und Tränen. Auf ihrem neuen Album „Sleep Well Beast“ sind The National auf der Höhe ihrer Kunst angekommen, die Band spielte es in Hamburg beinah komplett. Zwei Bläser und Backgroundsängerin Lisa Hannigan, dazu der Berliner Mouse-on-Mars-Frickeler Jan St. Werner – die neuen Stücke wurden soundtechnisch ohne Schwund auf die Bühne gebracht. Bryan Devendorf (mit giftig grüner Basecap – er kann es tragen) ist, das wurde wieder deutlich, einer der besten Drummer überhaupt, sein Geklöppel gab den Songs ein live noch energischeres Rhythmusgepräge. Aber es war Berninger, dessen mal beiläufig-brüchiger, mal kräftiger Bariton die Menschen einfing – gemeinsam mit den Dessner-Brüdern, die sich ebenso gut auf Rockposen wie Berninger verstehen. Vom Publikum wurden diese gierig aufgesogen.

Es durfte getanzt werden, und es wurde getanzt

Bei „Bloodbuzz Ohio“ etwa, als Berninger ein kleines Mädchen entdeckte und sich erstmals in die Reihen begab: zur allgemeinen Freude und auch als ­finale Anregung, die Bestuhlung fortan nicht weiter als Verpflichtung wahrzunehmen. Es durfte getanzt werden, und es wurde getanzt.

National-Songs sind immer auch Innenfluchten und Selbstaustreibungen Matt Berningers. Auf dem neuen ­Album wechseln sich Beziehungssongs („Nobody Else Will Be There“, „Guilty Party“) und gesellschaftsbezogene Stellungnahmen („Turtleneck“, „The System Only Dreams in Total Darkness“) ab. Letztere, so hat es Berninger erzählt, sind als Reaktion auf die Wahl Donald Trumps entstanden.

Womit man nun einen handfesten Auslöser der auf der Bühne zu bestaunenden, immer auch aggressiven Ausbrüche Berningers gefunden zu haben glaubt. Auch deswegen, weil kaum Saaltouristen in der Elbphilharmonie waren, fraß der Große Saal The National aus der Hand, sorgte für bisher nicht dagewesene Momente (man denke an den Fan, den Berninger auf die Bühne zerrte, um den, aber ja: Glücklichen dort ekstatisch singend anzuschreien) und intonierte am Ende brav, ergreifend, vom ersten bis zum letzten Wort „Vanderlyle Crybaby Geeks“. Wäre der National-Gig in anderen Locations genauso toll gewesen? Durchaus. Wenn man das schwere Popgerät – so technisch-vollgestellt war die Bühne vielleicht noch nie – betrachtet, kommt einem immerhin kurz der Gedanke, dass das U hier einigermaßen brachial ins E einfällt.

Dessner – ein Musiker, dem Unwahrscheinliches gelingt

Bei den übrigen Veranstaltungen von „Reflektor Bryce Dessner“ war dies nicht so. Sängerin Lisa Hannigan, ­begleitet von Dessner-Bruder Aaron, dem anderen National-Gitarristen, im Kleinen Saal, die Symphoniker unter Alan Pierson und das Klavierduo Katia & Marielle Labèque mit Kompositionen der Dessner-Brüder im Großen Saal – das war der Freitag. Am Sonnabend vor dem National-Auftritt im Kleinen Saal „Dessner Resonanz“: Ein blitzsauberes, formidables Konzert des Ensemble ­Resonanz, das drei Werke Bryce Dessners für Streichorchester spielte. Dessner, Jahrgang 1976, ist außer Rockmusiker auch Komponist, ­also ein Musiker, dem Unwahrscheinliches gelingt: Er überschreitet in seinem Schaffen die Grenze von Klassik und Unterhaltungsmusik. An diesem Abend verläuft sie zwischen Großem und Kleinem Saal.

Dessners Klassik-Einflüsse reichen von der englischen Renaissance über das frühe 20. Jahrhundert bis zur Minimal-Music-Legende Steve Reich. Das Ensemble Resonanz widmete sich einigen von Dessners Lieblingskomponisten – Bach, Lutostawski, Ives – und spielte unter den Augen Dessners dessen Werke „Lachrimae“, „Skik Trio“ und „Aheym“; Stücke von großer Eindringlichkeit und Dynamik, den ­geschichtlichen Raum durchmessend. Bei „Garcia Counterpoint“ griff Dessner dann zur Gitarre. Und würdigte den Grateful-Dead-Helden. Ein perfekter Übergang.