Hamburg. Gewerkschaft warnt: Viele Straftaten könnten kaum noch verfolgt werden. Aufklärung von 5000 Betrugsfällen gefährdet

Einerseits steht die Hamburger Polizei vor so großen Herausforderungen wie lange nicht – Einbrüche, die Folgen des G20-Gipfels, das Attentat von Barmbek, Autoposer, Terrorgefahr. Andererseits ist die Personaldecke weiterhin dünn. Erstmals sei die Lage nun so schlimm, dass voraussichtlich bis zum Jahresende Tausende Fälle unbearbeitet liegen bleiben, heißt es bei der Vertretung der Kriminalpolizisten. Sie schlagen mit ungewohnt deutlichen Worten Alarm. „Wir sind am Ende“, sagt Jan Reinecke, Landeschef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK).

Allein für die Soko „Schwarzer Block“ nach der Randale beim G20-Gipfel sei jeder zehnte Kriminalbeamte abkommandiert worden – bereits zuvor seien viele Dienststellen personell am Minimum betrieben worden, klagt Reinecke. „Die Situation lässt nicht mehr zu, die Kriminalität richtig zu bekämpfen. Das betrifft die organisierte Kriminalität ebenso wie Kapitalverbrechen. Der Zustand ist nicht tragbar.“

Besonders schlimm seien die Zustände im für Betrug zuständigen Landeskriminalamt 55: Dort würden bis zum Jahresende vermutlich 5000 Fälle liegen bleiben. „Jede Woche sind es 150 Fälle, die auf die Fensterbank wandern, statt sofort bearbeitet zu werden.“ Die Fallmappen würden teils nur noch in Kartons unter den Schreibtischen gesteckt. „Bis ein Beamter dazu kommt, die Fährte wieder aufzunehmen, hatten die Täter etwa beim Online-Betrug schon genügend Zeit, ihre Spuren zu verwischen“, sagt Reinecke. Das betreffe auch den Identitätsklau im Internet.

Weitere Beamte werden zur Terrorbekämpfung versetzt

Aber auch in sehr sensiblen Bereichen wie Sexualstraftaten fühlten sich die Beamten „nicht mehr wohl in ihrer Haut“. Den Beamten in diesem Dezernat seien etwa kürzlich noch weitere Aufgaben zugeteilt worden, sagte Reinecke. „Früher hatten wir Wartelisten für Beamte, die unbedingt in der Mordkommission oder in der Abteilung für Sexualdelikte arbeiten wollten. Heute will da keiner mehr hin.“

Zuletzt hatte die Statistik für die ersten drei Quartale dieses Jahres die niedrigste Gesamtkriminalität in Hamburg seit 18 Jahren ausgewiesen (das Abendblatt berichtete exklusiv). „Die Rückgänge zeigen, dass wir die richtigen Schwerpunkte gesetzt haben“, sagt Polizeipräsident Ralf Martin Meyer mit Blick auf die Delikte Einbruch, Fahrraddiebstahl und Taschendiebstahl. Der BDK-Landeschef Reinecke warnt davor, sich von den Zahlen blenden zu lassen: „Wie viele Straftaten registriert werden, hängt auch davon ab, wie stark die Polizei das Dunkelfeld ausleuchtet.“ Bei mafiösen Strukturen seien etwa kaum noch intensive Ermittlungen möglich.

Polizeisprecher Timo Zill bestätigte, dass die Personaldecke in der Kriminalpolizei dünn sei und bei den Betrugsfällen teilweise keine sofortige Bearbeitung möglich sei. Dies sei „maßgeblich“ dem G20-Gipfel geschuldet, der auch bei der Kripo viele Ressourcen beanspruche. „Alle Fälle werden aber betrachtet und entsprechend priorisiert“.

Insgesamt zeigten die jüngsten Zahlen, dass die Polizei noch leistungsfähig sei. „Wir geben etwa bei Kapitalverbrechen oder Delikten wie Einbrüchen keinen Millimeter nach“, sagte Zill. Er verweist auf die Einstellungsoffensive. „Mehr und schneller kann nicht ausgebildet werden, alle Systeme sind darauf ausgerichtet.“ Spätestens in zwei bis drei Jahren solle der Effekt spürbar sein.

Der Senat legt einen Schwerpunkt auf die Ermittlungen gegen politisch und religiöse Gewalt – zuletzt war bekannt geworden, dass Mirko Streiber zum neuen Chef des Staatsschutzes ernannt wird. Polizeisprecher Zill bestätigte dazu auf Anfrage, dass vereinzelt weitere Beamte zum Staatsschutz versetzt werden sollen, um dort etwa Hinweise auf Islamisten auszunehmen.

Die allermeisten Dienststellen seien aber inzwischen personell „ausgepresst“, sagt Jan Reinecke. Die zusätz­lichen Beamten könnten nur aus dem Landeskriminalamt 1 kommen, das für Kriminalität in der Fläche zuständig ist. „Das bedeutet, dass die Bürger den Mangel deutlicher spüren werden.“

Der Gewerkschaftschef richtet einen Appell an Polizeiführung: „Wir müssen wissen, welche Bereiche wir vernachlässigen sollen, wenn es immer neue Prioritäten gibt. Im Moment bleibt der Schwarze Peter beim einzelnen Sachbearbeiter hängen“, sagt Reinecke.