Rotherbaum. Hinterrücks wird Gymnasiast Victor E. im Oktober 2016 erstochen. Es gibt zahlreiche Theorien über die Tat – doch aufgeklärt ist sie bis heute nicht
Nur wenige Gewaltverbrechen der vergangenen Jahre haben die Menschen in Hamburg – und auch weit darüber hinaus – so bewegt wie die tödlichen Messerstiche auf den 16-jährigen Victor E. an der Alster am 16. Oktober 2016. Monatelang war der Tatort unter der Kennedybrücke eine Gedenkstätte mit Blumen und Grablichtern. Die Polizei ließ seit der grausamen Tat nichts unversucht, um den Mörder zu finden. Doch bislang blieb alles vergeblich.
Rückblende: Am ersten Wochenende der Herbstferien ist der Gymnasiast Victor mit einer 15 Jahre alten Freundin unterwegs. Beide setzen sich an dem Sonntagabend ans Ufer, mit Blick auf die Lichter an der Außenalster. Wie die Polizei später berichten wird, tritt der Täter gegen 22 Uhr von hinten an die beiden heran und sticht mehrere Male auf den jungen Mann ein. Dessen Freundin stößt er in die Alster. Dann flüchtet er.
Victor stirbt im Krankenhaus an den Stichverletzungen
Der Junge erleidet lebensgefährliche Verletzungen und stirbt wenig später im Krankenhaus. Das Mädchen kann sich aus dem Wasser retten. Die Polizei leitet sofort umfangreiche Ermittlungen ein. Beamte suchen die Grünflächen am Tatort mit Metalldetektoren ab, Taucher forschen im Wasser nach der Tatwaffe.
Die Ermittler bitten die Öffentlichkeit um Mithilfe – zuerst mit einer Personenbeschreibung, dann auch mit einem Phantombild. Plakate werden im Umkreis des Tatorts und auch in Flüchtlingsunterkünften aufgehängt. Den Täter beschreibt die Polizei so: „südländische Erscheinung – kurze, dunkle Haare – Dreitagebart – brauner Pullover, blaue Jeans“. Die Tat wird von der Polizei Ende Oktober nachgestellt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Am 30. Oktober – zwei Wochen nach dem Mord – meldet das Sprachrohr Amak der Terrororganisation Islamischer Staat, ein „Soldat“ des IS habe den Messerangriff auf zwei Menschen in Hamburg verübt. Eine Woche später schreibt Amak per Twitter, es sei ein „Kreuzzügler“ getötet worden. Die Ermittler und auch Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) zeigen sich skeptisch.
Eine Expertenrunde von Innenbehörde, Mordkommission, Staatsschutz und Verfassungsschutz berät. „Wir schließen nichts aus“, heißt es nun. Nach einer Prüfung durch die Bundesanwaltschaft führt die Hamburger Mordkommission die Ermittlungen weiter, „mit professioneller Unaufgeregtheit und in alle Richtungen“, wie Grote sagt. Wenige Tage später erklärt die Polizei, ein Zusammenhang zwischen der Tat und dem IS sei wenig wahrscheinlich.
Doch die Ermittlungen kommen nicht voran. Die Polizei schreibt über die Ärztekammer rund 11.000 Hamburger Mediziner an, weil sie vermutet, dass sich der Messerstecher bei der Tat an der Hand verletzt hat. Sie wertet Tausende Handydaten vom Abend des 16. Oktober aus – was durch einen Redakteur der „Lübecker Nachrichten“ publik wird, der zufällig ins Visier der Fahnder gerät.
Polizei prüft sogar Verbindung zum Attentäter von Berlin
Immer wieder gehen Taucher ins Wasser – doch die Tatwaffe bleibt verschwunden. Es werden Verbindungen zu anderen schweren Verbrechen untersucht: zu Anis Amri, der Ende Dezember einen Lastwagen in den Berliner Weihnachtsmarkt lenkt und zwölf Menschen tötet; zu einem psychisch gestörten Messerstecher, der im Januar im Stadtteil Bramfeld einen 19-Jährigen hinterrücks mit dem Messer angreift; und schließlich zu einem 26-jährigen Islamisten, der Ende Juli in Barmbek einen 52-Jährigen im Supermarkt ersticht und sieben weitere Menschen verletzt.
Trotz aller Bemühungen: Der Mörder von der Alster bleibt auch ein Jahr nach der Tat ein Phantom.