Hamburg. Eine Internet-Nutzerin führte die Ermittler der “Cold Cases“ auf die Spur. Täter will die dreifache Mutter aus Versehen getötet haben.
Am Ende der Jagd steht Steven Baack im großen Saal des Polizeipräsidiums und bemüht sich, cool zu bleiben. „Es waren emotionale Momente dabei“, sagt der Leiter der Abteilung „Cold Cases“ bei der Polizei, ein eigentlich kontrollierter, smarter Beamter mit Gelfrisur. Hinter ihm an der Wand prangt ein Foto. Beata Sienknecht. Jung, braune Haare, hübsch, drei Kinder. Und seit 36 Jahren spurlos verschwunden.
Sie wurde ermordet. Das scheint nun Gewissheit zu sein. Der 58 Jahre alte Klaus-Dieter H., ein Bekannter der Ermordeten, hat die Tat gestanden. Es waren nicht nur Jahrzehnte bis zu dieser Erkenntnis – sondern auch die Arbeit der Abteilung für ungelöste Fälle, eine Mischung aus Instinkt und Glück.
Hoffnung der Angehörigen setzte Ermittler unter Druck
Als die vier Beamten der „Cold Cases“ Ende 2016 ihre Arbeit aufnehmen, ist der Fall Beata Sienknecht nur eine verstaubte Vermisstensache. Sie war bei einer Freundin, am 13. Oktober 1981, nur zwei Stockwerke unter ihrer eigenen Wohnung. Sie erzählte von einem Streit mit ihrem Mann, oft wurde es laut, manchmal kam es zu Gewalt. Dann ging sie und verschwand spurlos. Die Ermittler fanden aber klare Indizien, die den Mann entlasteten. Es gab keine Leiche, keine Tatwaffe, keine weiteren heißen Spuren zu einem Verbrechen.
An ein freiwilliges Verschwinden glauben die Beamten um Steven Baack nicht. Die Polizisten haben ein Punktesystem, nachdem sie aus der Vielzahl von „kalten Fällen“ auswählen. Der Fall Beata Sienknecht wird einer von ihnen. „Wir müssen zunächst den Namen auf der Akte zu einem Leben in unseren Köpfen werden lassen“, sagt Baack. „Es gehört auch dazu, sich intensiv in die damalige Zeit zurückzuversetzen“.
„Cold Cases“-Einheit erstellt ein sogenanntes Personagramm
Die Beamten vernehmen die Angehörigen noch einmal, die Trauer bricht wieder auf, nach all den Jahren. „Aber da war auch sofort Hoffnung, eine Antwort auf die große Frage ihres Lebens zu finden“, sagt Baack. Aus seinem Gesicht ist herauszulesen, wie groß der Druck für die Ermittler wird, wenn sie alte Narben aufreißen müssen.
Im Präsidium erstellt die „Cold Cases“-Einheit ein sogenanntes Personagramm mit allen Beziehungen der Verschwundenen. Darauf taucht auch Klaus-Dieter H. auf, ein loser Bekannter, aber seinen Namen und seine Rolle kennen die Beamten damals noch nicht.
Ein Zeuge will Beata Sienknecht noch gegen 22 Uhr gesehen haben
Nur stückweise wird das Mosaik dichter. Da ist ein Zeuge, den die Beamten aufspüren, er will Beata Sienknecht noch gegen 22 Uhr auf einer Parkbank am Schreyerring gesehen haben. Ein Abgleich mit Fotos bestätigt, dass die Aussage glaubwürdig ist.
Es ist das letzte Lebenszeichen der 36-Jährigen. Und es verrät den Beamten ein Detail: „Die Frau hatte häufiger keinen Zutritt zu der eigenen Wohnung“, sagt Baack. Auch an dem Abend ließ der Mann sie offenbar nicht hinein. Die Spezialeinheit entscheidet sich, mit zwei Videos in sozialen Medien an die Öffentlichkeit zu gehen. „Neben der forensischen Entwicklung ist auch dies ein Mittel, das uns heute im Gegensatz zu früher zur Verfügung steht“, sagt Baack.
Verdächtiger tötete auch eine ähnlich aussehende Frau
Und manche Zeugen meldeten sich nach langer Zeit eher, da sie nicht mehr mit dem Täter bekannt, befreundet oder gar liiert sind. „Die Zeit ist unser Verbündeter“, sagt Baack. Den entscheidenden Tipp schreibt eine Nutzerin bei Facebook. Den Inhalt will Baack nicht verraten. Nur so viel: „Es war kein direkter Hinweis“, die Beamten setzten sich eher aus „einem Bauchgefühl“ heraus mit der Frau in Verbindung, die sie zu Klaus-Dieter H. führen sollte.
Der 58-Jährige saß bereits wegen Mordes in Haft. Er tötete 1984 eine Mutter und ihre zwei Söhne, gerade acht und zehn Jahre alt. In ihrem „Verhalten und Aussehen“ habe die Frau Beata Sienknecht geähnelt, heißt es nun. Sie brachte der Mann offenbar aus einem Impuls heraus um, wie er früher angab. Ein Gerichtspsychiater schätzte ihn als „vermindert schuldfähig“ ein.
Klaus-Dieter H. lebte ganz in der Nähe der Ermordeten
Zuvor hatte Klaus-Dieter H. ganz in der Nähe der Ermordeten in Steilshoop gelebt. Sprach er Beata Sienknecht auf der Parkbank an und tötete sie in seiner Wohnung? Hatte er weitere Motive für die Tat? Was machte er mit der Leiche? Steven Baack sagt nur, die „Art der Entsorgung“ lasse darauf schließen, dass die Leiche wohl nicht mehr aufzufinden sei. Klaus-Dieter H. gab an, die Frau aus Versehen getötet zu haben. Dann wäre das Verbrechen kein Mord und inzwischen verjährt. Klaus-Dieter H. muss aber mit einer Anklage rechnen.
Jetzt beginnt eine neue Jagd: Die Abteilung „Cold Cases“ prüft eine Verbindung von Klaus-Dieter H. zu weiteren Morden in Steilshoop und Bramfeld in den frühen 1980er-Jahren.
Direkt nach dem Geständnis von Klaus-Dieter H. hat Baack die Angehörigen von Beata Sienknecht angerufen. Sie „erschraken“, sagt er, erst dann schloss die Gewissheit etwas ihre Wunden. „Sie haben nun zumindest ein Datum, an dem sie trauern können.“