Hamburg. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz im Interview über Ansprüche an die SPD, die Zukunft von Martin Schulz und den Erfolg der AfD.

Er macht Wahlkampf bis zum letzten Augenblick: Drei Tage vor der Bundestagswahl stand Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) dem Abendblatt im Interview Rede und Antwort.

Wissen Sie eigentlich, wie viele Wahlkampftermine Sie in den vergangenen Wochen in Deutschland wahrgenommen haben?

Olaf Scholz: Jemand hat nachgezählt, dass es wohl um die 60 Auftritte waren.

Wie ist die Stimmung im Land?

Die Auftritte in Deutschland zeigen, wie unterschiedlich unser Land ist. Überall ist zu spüren: Deutschland steht einerseits wirtschaftlich gut da, wir haben sehr viele Erwerbstätige und ein robustes Wachstum. Andererseits beschreiben Bürgerinnen und Bürger mir in Gesprächen, dass sie bei sich selbst und in ihrem Umfeld davon zu wenig merken und dass sie ernste Sorgen haben. Das betrifft gerade kleine und mittlere Einkommen, die nicht mehr wachsen oder sogar schrumpfen. Viele verlieren auch das Zutrauen, dass es ihren Kindern einmal besser geht. Beide Stimmungen nehme ich bei meinen Auftritten wahr.

Die AfD ist im Umfragehoch. Was haben die anderen Parteien, auch die SPD, falsch gemacht?

Die Gründe für den Aufstieg der AfD liegen sicher nicht zuvorderst im taktischen oder praktischen Versagen der demokratischen Parteien in Deutschland. Wenn man sich in Europa umschaut, gibt es in vielen Ländern rechtspopulistische Parteien, die an Zulauf gewonnen haben. Wir müssen uns eben dem politischen Wettbewerb stellen und immer wieder Lösungen für eine gute Perspektive der Bürger unseres Landes liefern. Dann bleiben diese Parteien auf Dauer bedeutungslos, denn sie haben außer Parolen und schlechter Laune nicht viel zu bieten.

Aber Ursachenforschung steht meist am Anfang.

Ja, aber seriöse Wahlanalysen beginnen nach der Wahl.

Wie kann es sein, dass eine Protestpartei in Zeiten anhaltender wirtschaftlicher Prosperität und niedriger Arbeitslosigkeit zu solchen Erfolgen kommt?

Zwei Antworten: Erstens, schauen Sie sich um! In Norwegen sind die Rechtspopulisten an der Regierung. Welche wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben die reichen Norweger? Es gibt ähnliche Beispiele in Dänemark oder Österreich. Eine starke wirtschaftliche Entwicklung schließt die Entstehung solcher Parteien auch dort nicht aus. Zweitens: Die klassischen Industriestaaten erleben eine große Umbruchphase, die viele selbst bei guter allgemeiner Wirtschaftslage verunsichert. Anders sind solche Wahlergebnisse wie das von Donald Trump in den USA oder das Brexit-Votum im Vereinigten Königreich nicht zu erklären. Die Globalisierung und die Veränderungen, die der technische Wandel mit sich gebracht hat und die Digitalisierung noch bringen wird, lässt viele ängstlich in die Zukunft blicken. Das muss man im Blick haben. Deswegen ist es falsch, wenn auf den Wahlplakaten einer großen Partei suggeriert wird, alles sei super. Viele Bürger stehen vor diesen Slogans und fragen sich: Spiele ich gar keine Rolle in diesem Land? Ein Beispiel: Der von der SPD durchgesetzte Mindestlohn war für vier Millionen Arbeitnehmer eine tatsächliche Gehaltserhöhung. Das sagt auch etwas über die deutsche Wirklichkeit.

Warum ist die Wechselstimmung, die es nach der Schulz-Nominierung Anfang des Jahres gab, verpufft?

Das kann man nur spekulieren, und das führt nicht weiter. Wichtig ist mir die Erkenntnis, dass die SPD Ergebnisse oberhalb von 30 Prozent erreichen und sogar stärkste Partei werden kann. Das hat sich Anfang des Jahres gezeigt, und das sollte niemand vergessen. Bis Sonntag kämpfen wir für ein gutes Ergebnis der SPD.

Warum schafft die SPD es nicht, mit ihren Erfolgen in der Großen Koalition – etwa mit dem Mindestlohn – bei den Wählern zu punkten?

Ich wünsche mir mehr Respekt vor den Wählerinnen und Wählern. Gewählt wird am Sonntag, und erst dann kennen wir das Ergebnis. Meine Partei und ich werben dafür, dass die SPD besser abschneidet als in den aktuellen Umfragen. Das ist der deutschen Sozialdemokratie schon mehrfach gelungen, und die hohe Zahl der Unentschlossenen lässt hoffen. Grundsätzlich gilt für meine Partei: Sie muss dafür sorgen, dass es wirtschaftlich gut läuft und dass man ihr zutraut, das Land in unsicheren Zeiten zu führen. Und: Jeder muss sich vorstellen können, dass die SPD den Kanzler stellt.

Das ist eine Beschreibung, die schon vor sechs Monaten gegolten hat und die auch nach einer Wahlniederlage mit Blick auf 2021 wieder gelten wird. Konkret: Welches Angebot wollen Sie den Wählern in den letzten Tagen vor der Wahl machen, damit sich der Trend noch dreht?

Ich halte nichts davon, dass man mit kurzatmigen Ideen in letzter Minute noch um Wählerinnen und Wähler wirbt. Eine Wahlentscheidung ist auch das Ergebnis von Vertrauen. Und Vertrauen baut sich darüber auf, dass man über lange Zeit verlässlich und gut zu verstehen ist. Dann wissen die Leute, woran sie mit einem sind. Die SPD steht für gerecht bezahlte und unbefristete Arbeitsplätze für Frauen und Männer. Sie steht für Sicherheit und Würde im Alter und bei Krankheit. Sie steht für gute und gebührenfreie Bildung von Anfang an.

Von welchem Prozentwert an sind Sie mit dem Wahlergebnis der SPD zufrieden?

Da bin ich sehr anspruchsvoll. Ich möchte, dass die SPD in die Lage kommt, in Deutschland wieder die Richtlinien der Politik zu bestimmen.

Martin Schulz sagt immer, er möchte Bundeskanzler werden.

Recht so.

Was würden Sie denn dem HSV-Trainer sagen, der bei einem Stand von 0:3 in der 89. Spielminute sagt: „Ich will aber gewinnen!“?

Sportlich. Ein Spiel dauert meist länger als 90 Minuten. Oft gibt es ja eine Nachspielzeit wegen ein paar Fouls. (lacht)

Können Sie sich vorstellen, dass die SPD noch einmal als Juniorpartner in eine Große Koalition geht?

Wir werben um jede Stimme. Darum geht es jetzt.

Kann Martin Schulz Parteichef bleiben, wenn die SPD noch schlechter abschneidet als 2013?

Die Frage halte ich für ziemlich unangemessen. Wir befinden uns mitten im Wahlkampf.

Können Sie sich vorstellen, SPD-Chef zu werden?

Ich bin Hamburger Bürgermeister ...

... das schließt es ja nicht aus ...

Mit der Frage, was das Amt des Bürgermeisters erfordert, beschäftige ich mich sehr viel. Ansonsten mache ich Wahlkampf für Martin Schulz.

Was ist bei der Bundestagswahl Ihr Ziel für Hamburg?

Wir haben uns vorgenommen, in allen sechs Hamburger Wahlkreisen vorne zu liegen.

Wie stark beeinflusst Hamburg die Wahlentscheidung – Stichwort G20?

Die meisten Bürger wissen, was sie tun. Sie wählen den Deutschen Bundestag. Natürlich hilft es den Kandidaten, dass die SPD in Hamburg einen guten Ruf hat.

Und wie sieht es beim Gesamtergebnis für Hamburg aus?

Ich bin angesichts des Vertrauens, das sich die SPD über Jahre in Hamburg erarbeitet hat, sehr zuversichtlich, dass das Zweitstimmenergebnis wieder oberhalb des Bundesdurchschnitts liegen wird.