Hamburg. Drei Tage nach dem Anschlag ist im Stadtteil noch nicht an Normalität zu denken. Viele sind wütend, auch auf die Politik.
Die Haken in der Haushaltswaren-Abteilung, an denen normalerweise Messer in verschiedenen Größen hängen, sind heute leer. Auf Wunsch ihrer Mitarbeiter hat die Inhaberin des Edeka-Marktes, Inga Müller, die potenziellen Mordwaffen vorübergehend aus dem Sortiment genommen. Seit Freitag sind sie nicht mehr nur harmlose Küchengeräte, sondern auch eine Erinnerung an die schreckliche Tat, die hier einen Menschen das Leben gekostet und mehrere schwer verletzt hat.
Noch immer sind das Entsetzen und die Trauer im Viertel groß. Langsam soll wieder Normalität einkehren, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. „Ich bin fassungslos, dass so etwas bei mir in der Straße passiert ist, und wollte mein Beileid ausdrücken – habe mich aber erst jetzt wieder hierhergetraut“, sagt Anwohnerin Irmgard Bernsdorff, die eine Kerze mitgebracht hat, um sie zu den anderen zu stellen.
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Das Meer aus Blumen, Kondolenzkarten und Lichtern, das Anwohner vor dem Supermarkt aufgebaut haben, wurde am Montagmorgen einige Meter verrückt, um den Eingang frei zu machen. Pünktlich um 7 Uhr öffnet der Markt seine Türen, „um für die Leute da zu sein“, wie Unternehmenssprecher Gernot Kasel sagt. Inhaberin Müller will sich noch nicht persönlich äußern, da „der Schock noch zu tief sitzt“, sagt Kasel. Auf Empfehlung der Polizei hat die Kauffrau private Sicherheitskräfte engagiert. Sie sollen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln – so weit das möglich ist.
Müller hat ihren Mitarbeitern freigestellt, ob sie heute, drei Tage nach der Tat, schon wieder zur Arbeit kommen wollen. Vier sind daheimgeblieben – aber nicht Auszubildender Toufiq Arab, der dabei geholfen hatte, den Attentäter zu überwältigen. Gegen 13 Uhr kommt der als Held gefeierte junge Mann in dem Markt an. „Ich möchte meine Kollegen in dieser schweren Zeit unterstützen“, sagt der selbstlose 21-Jährige. „Ich kann arbeiten, mir geht es gut – bin nur etwas müde.“ Seit dem Vorfall würde er schlecht schlafen.
Schreckliches erlebt
Kein Wunder. Der junge Mann hat Schreckliches erlebt. Am Freitag saß er an der Kasse, als plötzlich Schreie zu hören waren: „Als ich realisiert habe, was da passiert, war mir klar: Ich muss eingreifen!“ Er nahm die Verfolgung auf und überwältigte den Attentäter gemeinsam mit anderen. „Meine Eltern haben aus den afghanischen Nachrichten von dem Vorfall erfahren“, sagt der Flüchtling, der vor fünf Jahren nach Deutschland kam, und dessen Eltern noch immer in Afghanistan leben. Sie sind sehr stolz auf ihren Sohn. „Als ich mit ihnen telefonierte, haben sie gefragt, warum der Täter das getan hat – ich konnte es ihnen nicht beantworten.“
Anwohner diskutieren noch immer aufgebracht
Fassungslosigkeit und Unverständnis über die Tat sind bei vielen groß. „Warum?“, steht in großen Buchstaben mit Kreide auf den Asphalt geschrieben. Immer wieder bleiben Passanten stehen, machen Handyfotos von den vielen Blumen, Kerzen und Karten, die im Gedenken an die Opfer abgelegt wurden. Die Anwohner diskutieren, teils sehr aufgebracht. Fragen nach Verantwortung der Politik kommen immer wieder auf. Warum war der Täter noch in Deutschland? Welchen Anteil an der Tat hatten möglicherweise psychologische Probleme? Diese Fragen beschäftigen die Menschen.
„Ein weiteres Todesopfer, welches die Politik zu verantworten hat“, steht auf einem zwischen den Blumen abgelegten Zettel. Der Meinung ist auch Anwohner Joachim Wanner: „Warum hat man ihn denn nicht abgeschoben, wenn bekannt war, dass er gefährlich ist?“ Eine Passantin erwidert: „Wurde er doch. Aber so schnell geht das nicht. Kann ja auch keiner hellsehen, dass so einer plötzlich durchdreht.“ Das Motiv des in den Vereinigten Arabischen Emiraten geborenen Palästinensers, der im März 2015 nach Deutschland kam, ist den Ermittlern zufolge noch unklar. Sein Asylantrag war 2016 abgelehnt worden. Er befand sich bereits im Ausreiseverfahren. Der 26-Jährige war den Sicherheitsbehörden als Islamist bekannt. Sie gingen aber nicht davon aus, dass von ihm eine unmittelbare Gefahr drohte.
Mitarbeiter brauchen jetzt Zeit
Während eine kleine Gruppe noch lebhaft die Schuldfrage diskutiert, steht plötzlich Ömer Ünlü vor dem Supermarkt. Der Moslem, der den Attentäter mit einem gezielten Pflastersteinwurf an den Hals zu Boden gebracht hatte, wird von einigen Anwesenden erkannt und begrüßt. Ein junger Mann bedankt sich für seinen Mut und will den „Helden“ auf ein Getränk einladen. Ünlü trägt seinen Arm in einer Schlaufe: „Ich habe mir die Schulter ausgekugelt, als ich mit einer Eisenstange auf den Attentäter eingeschlagen habe.“ Seine Freundin habe ihn nach dem Vorfall ins Krankenhaus gefahren. „Dort hat mir niemand geglaubt, dass wirklich einer mit einem Messer rumläuft und wahllos Menschen absticht“, sagt der 35-Jährige, der erstaunlich gelassen rüberkommt: „Ich war nicht geschockt, da ich psychisch sehr stabil bin.“
Nicht jedem fällt das so leicht. Auch die Supermarkt-Mitarbeiter bräuchten noch Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten, erklärt Edeka-Sprecher Kasel: „Allen wurde psychologische Hilfe angeboten, einige haben das auch in Anspruch genommen.“ Damit wieder Normalität einkehren kann. Irgendwann.