Hamburg. Der Rothenbaum-Turnierdirektor widmet sich seit dem Ende seiner Profi-Karriere seiner Stiftung und sechs Ehrenämtern. Ein Porträt.

Es ist ja nicht so, dass sonst niemand etwas von ihm wissen will. Aber besonders in diesen Tagen ist Michael Stich das, was man sich unter einem gefragten Mann vorstellt. Schließlich muss, wenn an diesem Sonnabend die 111. Auflage des Herrentennisturniers am Hamburger Rothenbaum startet, ein Großteil seiner Arbeit abgeschlossen sein, damit das Traditionsereignis reibungslos durchgeführt werden kann. Die Akquise der teilnehmenden Profis, die Pflege der Partner und Sponsoren und die Gespräche mit Verbänden und Funktionären – all das sind Aufgaben, die Stich in seinem Amt als Turnierdirektor zu erfüllen hatte in den vergangenen Wochen.

Auch wenn der 48-Jährige seine Zeit durchaus mit mehr als Arbeit zu füllen versteht, mag er diese intensive Phase des Jahres sehr. Weil er spürt, dass das, was er tut, sichtbare Ergebnisse hervorbringt. So wie damals, als er als Tennisprofi um die großen Titel spielte. „Im Sport, insbesondere in einem Einzelsport wie Tennis, bekommst du sofort eine Rückmeldung auf das, was du investiert hast“, sagt er. Entscheidungen schnell treffen zu müssen, aber auch damit leben zu können, wenn eine falsch war, sei die vielleicht wichtigste Lektion, die ihn seine erste Karriere gelehrt habe.

Tennis war für ihn zunächst kein Beruf

Dass aus seinem Hobby überhaupt eine Karriere werden könnte, war für Michael Stich unvorstellbar, als er auf der Elmshorner Bismarckschule an seinem Abitur baute. Tennis sei für ihn „irgendwie kein Beruf“ gewesen. Die Familie war im bürgerlichen Milieu zu Hause. Vater Detlef, von dem Stich seinen zweiten Vornamen hat, war Diplomkaufmann. Die 1999 verstorbene Mutter Gertrud gab ihren Beruf als Sekretärin auf, um sich um die drei Söhne zu kümmern. Stichs Brüder Thorsten (sieben Jahre älter) und Andreas (zwei Jahre älter) sind beide studierte Informatiker. In so einer Familie ist ein Leistungssportler ein bunter Hund.

Aber wahrscheinlich kann auch nur in einem solchen Umfeld ein Mensch gedeihen, der so geräuschlos von der Leistungssportkarriere im Rampenlicht der Öffentlichkeit in ein normales Berufsleben abseits der Kameras hinübergleiten kann, wie es Stich gelang. Natürlich hat er gewusst, dass er nie wieder in etwas so erfolgreich sein würde wie im Tennisspielen. Jim Courier, einer der US-amerikanischen Weggefährten Stichs, hatte den Stellenwert des Wimbledonsiegers von 1991 einst so beschrieben: „Wenn wir alle an unserem Leistungslimit spielen, dann ist Michael der Beste.“

Sein ausgeprägtes Ballgefühl und die Fähigkeit, im Einzel und im Doppel auf allen Belägen sein Leistungslimit zu erreichen, machten Stich zu einem der weltbesten Allrounder. Ihm fehlte allerdings die bedingungslose Fokussierung auf seinen Sport, um das Maximum auszuschöpfen, das möglich gewesen wäre. Im Nachhinein war dieses Denken ein Segen. „Ich wusste immer, dass nach dem Sport etwas kommen würde, was mich genauso erfüllt. Deshalb hatte ich nie Angst vor dem berühmten Loch, in das viele Leistungssportler nach ihrer Karriere fallen“, sagt Stich.

Seine Stiftung gründete er als 25-Jähriger

1997 beendete er, gezeichnet von zermürbenden Verletzungsproblemen, nach der Halbfinalniederlage gegen den Franzosen Cédric Pioline in Wimbledon spontan seine Karriere. „Ich spürte einfach, dass ich nicht mehr bereit war, Tennis so viel Raum zu geben. Und ich wollte nicht erst aufhören, wenn ich gegen Spieler verlieren würde, gegen die ich nicht verlieren wollte“, sagt er. Also stellte er den Schläger für fünf Jahre in die Ecke und widmete sich neuen Zielen.

Eines davon war das Fortkommen der Stiftung, die er als 25-Jähriger gegründet hatte, um seine Preisgelder sinnvoll zu verwenden. Seit 1994 kümmern sich Stich und sein Team um Hilfe für am HI-Virus erkrankte Kinder, leisten Aufklärungsarbeit rund um das Thema HIV und Aids. Mehr als 1,5 Millionen Euro, erwirtschaftet aus Charity-Events wie dem jährlich stattfindenden Drachenboot-Cup oder Golfturnieren, sind seitdem an die Immundefekt-Ambulanz des Universitätsklinikums Eppendorf geflossen. Mit dem Ein-Mann-Theaterstück „I will survive“, gespielt von Michael Wanker, hat die Stich-Stiftung mehr als 70.000 Jugendliche an 120 Schulen in Hamburg und Umland erreicht. „Das ist eine Arbeit, die mich erfüllt“, sagt Stich.

Turnierdirektor ist er im neunten Jahr

Ausfüllt allerdings nicht, denn sonst könnte er sich nicht zusätzlich in sechs Ehrenämtern engagieren, im Aufsichtsrat des von ihm 2002 mit aufgebauten Rückenzentrums am Michel sitzen oder an der Entwicklung eines Onlineportals mitwirken. Letzteres mag denen komisch vorkommen, die Stich als Liebhaber der alten Schule kennen, der in keinem der sozialen Netzwerke aktiv ist und wichtige persönliche Briefe noch mit Füllfederhalter von Hand schreibt. Aber auch wenn es ihm bisweilen so vorkommt, als zerbräche seine Welt unter dem Tempo der Moderne, ist Stich keiner, der sich der Zukunft verschließt. So lange wenigstens, wie Traditionen trotzdem gewahrt bleiben.

Im neunten Jahr ist Stich nun Turnierdirektor am Rothenbaum. Er hat den Job von seinem früheren Davis­cupkollegen Charly Steeb 2009 nicht übernommen, weil ihm langweilig war oder es ihn zurück in die Tennis-Öffentlichkeit drängte. Vielmehr baten ihn seine heutigen Geschäftspartner Detlef Hammer und Jens Pelikan, mit denen Stich die Veranstaltungsagentur HSE führt, um seine Meinung, wie man das in arge Schieflage geratene Dickschiff der Hamburger Sportlandschaft in ruhigeres Fahrwasser lotsen könne. Damals war das Turnier von der Herrentennisorganisation ATP von der Masters- in die 500er-Serie herabgestuft worden.

Der Rothenbaum ist eine Herzenssache

Stich hatte natürlich ein paar Ideen und Tipps, vor allem aber hing sein Herz an seinem Heimatturnier. 1993 hatte er sich, als bis heute letzter Deutscher, mit dem Titelgewinn am Rothenbaum einen seiner wenigen sportlichen Träume erfüllt. Deshalb war ihm klar, dass er helfen wollte, diesen Schatz zu bewahren. Und weil er wusste, dass man ihm als Hamburger und ehemaligem Tennisstar diese Nähe als authentisch abkaufen würde, stellte er sich als Turnierdirektor zur Verfügung. Er macht den Job mit all seinen Eigenheiten: der erst nach der aktiven Karriere ausgeprägten Fähigkeit, Menschen für sich und seine Ziele zu begeistern, aber auch mit dem Sturkopf eines Mannes, der von einer Meinung, die von seiner abweicht, bisweilen mühsam überzeugt werden muss und der als Diplomat nur bedingt taugen würde.

Loyalität und Ehrlichkeit, das sind die Eigenschaften, die er an Partnern besonders schätzt und für die auch er steht. Kein Wunder also, dass ihn die Absage des deutschen Jungstars Alexander Zverev, der trotz einer schriftlichen Vereinbarung in diesem Jahr nicht in seiner Heimatstadt antreten möchte, vor allem persönlich getroffen hat.

Er hat seine Projekte und sein Leben im Griff

Die emotionale Bindung, die Zverev abzugehen scheint, sei 2009 sein Antrieb gewesen, sich zu engagieren. „Natürlich wollen wir auch Geld verdienen, aber in erster Linie geht es um das Gefühl, dieses Turnier für Hamburg erhalten zu wollen“, sagt er. Es gibt Menschen, die Stich das nicht abnehmen, weil sie ihn als bisweilen knauserigen, immer auf das Geld achtenden Geschäftsmann kennengelernt haben. Dass er 2012 im Zuge der ­Hamburger Bewerbung um die Olym­pischen Sommerspiele eine Bezahlung für seine Tätigkeit als Botschafter forderte, hat in städtischen Gremien einige verwundert und abgeschreckt. Stich hat dazu eine klare Meinung. Er findet, dass die, die es sich leisten können, andere angemessen für ihre Mühen entlohnen sollten. „Für mich sind 50 Euro genauso viel wert wie für jeden anderen“, sagt er.

Wahrscheinlich hat diese Einstellung überhaupt erst ermöglicht, dass Stich auch abseits des Tennisplatzes mit seinen Vorhaben reüssieren konnte. Während Boris Becker, sein sportlicher Dauerrivale von einst, wegen seiner Finanzsorgen durchs mediale Dauerfeuer gehen muss, hat Stich seine Projekte und sein Leben im Griff – wenigstens so weit, wie es in seiner Macht steht.

Er würde am Rothenbaum gern weiter machen

In diesem Jahr vergibt der Deutsche Tennis-Bund die Lizenz für das Rothenbaum-Turnier von 2019 an neu. Stichs HSE ist einer von vier Bewerbern, er hat in den vergangenen Monaten oft betont, wie gern seine Partner und er für weitere zehn Jahre am Filzball bleiben würden. Aber wenn der Verband anders entscheidet, dreht sich für Michael Stich die Erde trotzdem weiter.

„Natürlich finde ich dann neue Dinge, die ich machen kann“, sagt er. Mehr Arbeitskraft für seine Stiftung und die Firmen; mehr Muße, um seine im Dressurreiten aktive Ehefrau Alexandra zu unterstützen oder mit den beiden Hunden im Alstertal zu joggen; mehr Zeit für sein Hobby, die Malerei, und das Sammeln von zeitgenössischer Kunst. Und dann ist da noch der Traum, das Polarlicht zu sehen.

Es mag für Michael Stich keine neue Erkenntnis sein, dass das Tennis ihn mehr braucht als er das Tennis. Dass er dennoch alles geben wird, um am Rothenbaum nicht nur die kommende Woche so erfolgreich wie möglich zu gestalten, sondern auch die nächsten elf Jahre, spricht dafür, dass der Wettkämpfer in ihm noch lange nicht in Ruhestand gehen will. Und für ein paar Wochen im Jahr der gefragte Mann zu sein, damit kann er auch leben.

Nächste Woche: Jens Todt, Sportchef des HSV