Hamburg. Der G20-Gipfel, die schweren Ausschreitungen und deren Folgen stürzen die Partei in ein Wechselbad der Gefühle.

Um zu wissen, wie es um das Verhältnis zweier Koalitionspartner bestellt ist, genügt es manchmal, das Applausverhalten bei Reden des Regierungschefs zu beobachten. Als Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch in der Bürgerschaft seine Regierungserklärung zum G20-Gipfel und den unvorstellbaren Gewaltausbrüchen auf den Straßen abgab, klatschten SPD und Grünen-Abgeordnete einträchtig. In der Not nach den schockierenden Ereignissen, das war die Botschaft, stehen die Bündnispartner einander bei.

Nur einmal während der rund 35-minütigen Rede rührte sich keine Hand in den Reihen der Grünen-Fraktion, und die Sozialdemokraten applaudierten allein. Da setzte sich Scholz mit den umstrittenen Protestcamps der G20-Gegner auseinander. Die Polizei habe diese Camps untersagt, so Scholz, „weil sie die berechtigte Gefahr gesehen hat, dass diese Camps zu Sammel- und Rückzugsräumen von Straftätern werden“. Unmittelbar vor dem Gipfel erlaubte das Oberverwaltungsgericht plötzlich doch ein Camp mit 300 Zelten, das dann am Volkspark tatsächlich auch entstand.

Grüne wollten Camps, aber von dort ging Gewalt aus

„Wir wissen heute, dass etliche Gewalttäter dort Unterschlupf gefunden haben. Die Gefahreinschätzung – das hat das Wochenende gezeigt – war richtig“, sagte der Bürgermeister unter dem Beifall seiner Parteifreunde. Hier war den Grünen nicht nach Applaus zumute. Immer wieder hatte der SPD-Koalitionspartner solche Camps gefordert – nicht zuletzt auch per Beschluss auf einer Mitgliederversammlung. Die Gerichtsentscheidung, ein solches Lager zu erlauben, sahen sie als Bestätigung ihrer Linie an.

Doch ausgerechnet von dem Camp am Volkspark hat offensichtlich eine der schlimmsten Ausschreitungen ihren Ausgang genommen. Eine große Gruppe Vermummter machte sich nach Angaben der Polizei von dort aus am frühen Freitagmorgen auf den Weg Richtung Innenstadt. Es kam zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei und einigen Festnahmen, aber ein erheblicher Teil der Vermummten konnte flüchten und sich wieder sammeln. Der Mob zog bald darauf eine Spur der Verwüstung mit brennenden Autos und eingeschlagenen Fensterscheiben durch die Elbchaussee und die Große Bergstraße in Altona.

Militante Autonome

Bei der von Rot-Grün in dieser Woche so bereitwillig angekündigten Aufarbeitung der Geschehnisse rund um den Gipfel wird es auch um das Camp am Volkspark gehen müssen, von dem bekannt war, dass der Anmelder der Rote Aufbau Hamburg ist – eine kommunistische Gruppe, der von Sicherheitsbehörden eine gewichtigere Rolle für die Mobilisierung militanter Autonomer zugeschrieben wird als der Roten Flora. Das könnte noch eine unangenehme Diskussion für die Grünen ergeben.

Der zweite Haarriss im Bündnis betrifft die Aussage der drei grünen Senatoren Katharina Fegebank (Wissenschaft), Jens Kerstan (Umwelt) und Till Steffen (Justiz), dass der Gipfel für Hamburg zu groß und die Stadt deswegen als Austragungsort ungeeignet sei. Die Sätze fielen noch während des Gipfels. Bei der SPD-Fraktionssitzung am Montag dieser Woche waren einige Abgeordnete „stinksauer“ über diese Absetzbewegung des grünen Koalitionspartners auf dem Höhepunkt der gewalttätigen Ausschreitungen. Scholz wurde und wird auch jetzt nicht müde zu betonen, dass Hamburg als Gipfelort trotz aller Gewaltexzesse richtig war.

Die Beispiele zeigen, dass die Grünen zwischen Baum und Borke stecken. Die Partei ist in Hamburg groß geworden mit einer sehr kritischen Distanz zur Polizei. Das Hinterfragen von Einsätzen der Staatsmacht gerade bei Demonstrationen gehörte über Jahre zur Kernkompetenz der Grünen. Wenn die Polizei mit Wasserwerfen und Tränengas vorrückt, lautet der erste Reflex vieler Grüner nach wie vor: Muss das jetzt sein? Gibt es nicht noch einen friedlicheren Weg? Die Grünen sind die Partei der Deeskalation. Angesichts der Bilder aus dem Schanzenviertel, angesichts der Gewalttätigkeit und der Plünderungen musste das zunächst einmal in den Hintergrund treten.

Ein empfindlicher Punkt

Und doch haben etwa Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks und Parteichefin Anna Gallina deutlich gemacht, dass im Zuge der Aufarbeitung der G20-Ereignisse auch „die Frage der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes“ der Polizei untersucht werden muss. Das sagen Sozialdemokraten auch so ähnlich, nur bei den Grünen rührt dieser Punkt an das eigene politische Selbstverständnis und die Identität.

Wie unterschiedlich SPD und Grüne nach dem Gipfel „ticken“, zeigt ein Vorgang vom Freitag. „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise“, sagte Bürgermeister Scholz dem Radiosender NDR 90,3. Antje Möller, seit vielen Jahren innenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion und eine Art rechtsstaatliches Gewissen der Partei, reagierte extrem kühl auf den Scholz-Satz. „Es laufen derzeit 35 rechtsstaatliche Verfahren gegen Polizeibeamtinnen und -beamte. Die Frage der Schuld wird in einem Rechtsstaat am Ende des Verfahrens festgestellt, nicht am Anfang“, sagte Möller und fügte hinzu: „Wir nehmen die Vielzahl an Rückmeldungen zu polizeilichen Übergriffen, die uns abseits der Ermittlungsverfahren erreicht haben, sehr ernst.“ Das ist im Grunde eine Ohrfeige für Olaf Scholz.

SPD und Grüne sitzen in einem Boot, rudern aber nicht im Takt

Möllers polizeikritische Sicht ist die eine Seite der Grünen, die vielen Mitgliedern aus dem Herzen sprechen wird. Die andere Seite ist das klare Bekenntnis zum Fortbestand des rot-grünen Bündnisses. Weder bei der intensiven Diskussion in der Grünen-Fraktion am Montagabend noch im Landesvorstand der Partei wurde die Forderung nach Austritt aus dem Bündnis erhoben – zur Wahrung der reinen Lehre etwa.

Was bleibt den Koalitionspartnern auch anderes übrig? Weder SPD noch Grüne haben derzeit das Interesse, das Bündnis platzen zu lassen. So haben sich beide Partner verabredet, diesen heftigsten Sturm ihrer bisherigen Zusammenarbeit gemeinsam zu überstehen. SPD-Fraktionschef Andreas Dressel und sein grünes Pendant Anjes Tjarks stimmen ihre Äußerungen zum G20-Gipfel gegenseitig ab. Scholz hat den grünen Senatsmitgliedern seine Regierungserklärung vorher zum Lesen gegeben. Es war die erklärte Absicht des Bürgermeisters, die Erklärung im Namen des ganzen Senats abzugeben. Ob das alles reichen wird, um dem Druck standzuhalten, steht dahin. SPD und Grüne sitzen in einem Regierungsboot, aber sie rudern nicht im Takt.

Eine zentrale Frage auch für die Zukunft von Rot-Grün wird der Umgang mit der Roten Flora sein. Unumstritten ist, dass aus dem frisch renovierten Haus am Schulterblatt mitten im Schanzenviertel Aufrufe an militante Schwarzgekleidete in ganz Europa ergangen sind, zu Krawallen während des Gipfels nach Hamburg zu kommen. Die rot-grüne Sprachregelung lautet derzeit, dass es keine Schnellschüsse geben dürfe und die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen etwa zur Beteiligung von Floristen an Straftaten erst einmal abgewartet werden sollen. Auch die szenenäheren Grünen fordern, dass sich dort „etwas ändern muss“. Nur was?