Hamburg . Beim alternativen Gipfel auf Kampnagel dreht sich alles um globale Ungerechtigkeit – und den wachsenden Reichtum einer kleinen Gruppe.

Schlange stehen gehört bei Gipfeln offensichtlich dazu, bei den großen wie bei den kleinen. Bis zur 100 Meter entfernten Jarrestraße stehen die Menschen an diesem Mittwochmorgen an, um beim „Gipfel für globale Solidarität“ auf Kampnagel dabei sein zu können. Sie wollen nicht Donald Trump, Wladimir Putin oder Angela Merkel hören, sondern die indische Ökologin Vandana Shiva, die türkische Friedensaktivistin Nuray Sancar oder Johanna Böse-Hartje von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft.

Mal abgesehen davon, dass beim „echten“ Gipfel ohnehin kein Zuschauer den Staatschef zuhören oder auch nur nahe kommen kann: Hier in Winterhude ist auch sonst alles anders als in den Messehallen. Es gibt keine blaue und keine rote Zone, keine Sicherheitschecks, und vom Eingang weg gilt das Du.

Bunt, international und links

Dahinter, in den alten Fabrikhallen, geht es bunt, international und im Zweifel links zu: Brot für die Welt bittet um Spenden, das globalisierungskritische Netzwerk Attac erklärt, wie „global gerecht“ geht, die Hilfsorganisation Oxfam will „Steuervermeidung von Großkonzernen stoppen“, ein großes Spruchband über dem Stand vom Flüchtlingsrat Hamburg fordert „Offene Grenzen und Bleiberecht für alle“, und die „Junge Welt“ verteilt gratis ihre aktuelle Ausgabe, in der sie sich auf dem Titel dafür bedankt, dass der Verfassungsschutz sie als „bedeutendstes und auflagenstärkstes Printmedium im Linksextremismus“ bezeichnet hat. Hier und heute soll das wohl als Ritterschlag durchgehen.

Die Stimmung im überwiegend jungen und auffallend weiblichen Publikum ist dennoch alles andere als extrem, sondern entspannt und friedlich – als wollten die 1500 angemeldeten Teilnehmer aus aller Welt den hier vielfach kritisierten Sicherheitsbehörden demonstrieren: Seht her, man kann G20-kritisch und dennoch friedlich sein. Gegessen wird zwischendurch im „Peacetanbul“, Gemüsereis gibt es für 5 Euro, Tomatensuppe für 3 Euro. Faire Preise.

Intendantin gibt den Ton vor

Den Ton der zweitägigen Veranstaltung gibt Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard schon in ihrer Begrüßung vor: „Der Sound der Stadt hat sich stark verändert in den letzten Tagen.“ Reden sei in Hamburg ja kaum noch möglich, „weil immer ein Hubschrauber über einem kreist“, so Deuflhard. „Ich war gestern Abend auf St. Pauli beim Cornern. Friedlicher geht es kaum.“ Dennoch habe die Polizei die öffentlichen Feiern vor Kneipen aufgelöst. Auch das zeige die Notwendigkeit des alternativen Gipfels. Hier, im Schutz des liberalen Kulturzentrums, könne jedenfalls jeder friedlich seine Meinung sagen, soll das heißen.

Indes: So allergisch die Polizei auf Cornern und Campen reagiert, so wenig haben sich die Macher des Alternativen Gipfels – rund 50 Organisationen von Attac bis zur Rosa-Luxemburg-Stiftung, vom BUND bis zum Landesfrauenrat – auf abweichende Meinungen eingelassen. Es geht in den zwölf Podiumsdiskussionen und 70 Workshops zumeist stramm in eine Richtung: die Überwindung des „Systems“ und die Ablösung des Kapitalismus – durch was auch immer, da ist man sich noch nicht so einig.

800 Zuhörer in der proppevollen Halle 6

Als Auftaktrednerin stimmt die indische Ökologin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises, Vandana Shiva, die gut 800 Zuhörer in der proppevollen Halle 6 auf Kampnagel ein. „Die G20-Mitglieder sind gar nicht die Mächtigen, sie sind nur die Sherpas“, so ihre Theorie. Die wahre Macht hätten Superreiche und Großkonzerne, die G20 würde nur deren Interessen vertreten. Shiva sprach von „Chemie-Kriminellen“ und nannte als Beispiel den US-Konzern Monsanto. Der kontrolliere in Indien fast den kompletten Saatgutmarkt, habe die Preise drastisch erhöht und so Hunderte Bauern in den Selbstmord getrieben. „Sollte sich die G20 nicht darum kümmern?“, fragte Shiva und erntete donnernden Applaus.

Der Wissenschaftler Nick Hildyard vom Corner House in London illustriert das später bei einer ebenfalls sehr gut besuchten Podiumsdiskussion mit Fotos von Selbstmordopfern, die er per Beamer­ an eine Leinwand wirft. Auch in China, fügt er hinzu, stürze der Computerriese Apple Arbeiter, die iPads montieren, mit Hungerlöhnen ins Unglück. Das Foto dazu ist ziemlich blutig.

Vergleich von Arm und Reich als roter Faden

Quasi als roter Faden durch den ersten Tag zieht sich die von Vandana Shiva eingeführte Hochrechnung, dass heute acht Superreiche so viel besäßen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Hildyard präzisiert später, dass dazu vor einigen Jahren noch 67 Reiche nötig waren, und es am Ende des Jahres wohl nur noch vier sein werden – was die Autorin und Aktivistin Friederike Habermann mit der spöttischen Bemerkung abrundet, dass sich das Problem dann ja bald gelöst habe.

Doch Humor ist heute nicht Trumpf. Die Probleme sind groß und ernst, die Stimmung konzentriert. Der brasilianische Gewerkschaftsboss Valter Sanches, der als Generalsekretär der IndusriALL Global Union die Interessen von weltweit 50 Millionen Industriearbeitern vertritt, beklagt, dass Großkonzerne ihre Gewinne auf Kosten der Arbeitsbedingungen steigern und Gewerkschaften behindern würden, und zwar auch in Mexiko und im Süden der USA. Auf die Nachfrage der Moderatorin, wie er dazu stehe, dass seine Gewerkschaft auch in der Kohleindustrie aktiv sei, die doch den Klimawandel beschleunige, räumt Sanches ein, Kohlebergwerke seien schlecht, keine Frage. Aber er vertrete halt die Arbeiter.

Barbara Unmüßig von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung kritisierte, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel sich beim G20-Gipfel „als große Klimaschützerin hinstellen“ werde, die am Pariser Klimaschutzabkommen festhalte. Doch was nütze das, wenn die anderen 19 Parteien am Tisch nichts dazu beitragen? Unmüßig gab die drastisch formulierte Antwort gleich selbst: „Wir müssen deutlich machen, dass wir uns nicht verarschen lassen!“

Nach ihrer Beobachtung laufe die „größte Repressionswelle gegen die Zivilgesellschaft“ seit Langem, und zwar nicht nur in Russland oder in der Türkei, sondern „auch hier in Hamburg, vor der Tür“. Nun, zumindest für das Umfeld von Kampnagel galt das nicht. In Winterhude blieb alles ruhig.