St. Pauli. Der Amerikaner David Patrician hat die Party auf dem Spielbudenplatz besucht: “Das ist Euer Super Bowl.“ Seine Erlebnisse.

Zeit, den Brexit für eine Weile zu vergessen, nicht mehr über Trump nachzudenken, die Sorgen um den HSV beiseitezuschieben. Zeit für ein bisschen Harmonie, zumindest für ein paar Stunden: Europa kommt zusammen, um sich und die Musik zu feiern. Zeit für den Super Bowl of European Music ... den ESC!

Das Date auf der Reeperbahn

In den letzten Jahren in Hamburg habe ich immer mal im Fernsehen ein paar Songs geschaut, aber dieses Mal gibt es keine Ausreden: Ich und der ESC haben ein Date auf der Reeperbahn! Als ich auf dem Spielbudenplatz ankomme, warten rund um 1500 Menschen auf den offiziellen Countdown, der die Party einläutet. Der ganze Tag war sonnig, aber um 20.30 Uhr beginnt nicht nur die Show, sondern mit einem Schlag auch der Regen! Doch das kann lovely Barbara Schöneberger auf der Bühne nicht davon abhalten, die Fans in grandiose Partylaune zu versetzen. Auch Adel Tawil ist mit dabei – und Mando Diao (wo waren die eigentlich die letzten Jahre?). Ich erlebe auch Nicole, Deutschlands erste Gewinnerin des Eurovision Song Contest – ich muss einen Weg finden, diese ESC-Legende heute Abend zu treffen!

Musikfans feiern auf dem Spielbudenplatz im strömenden Regen vor der Bühne des NDR bei der
Musikfans feiern auf dem Spielbudenplatz im strömenden Regen vor der Bühne des NDR bei der "Countdown für Kiew" - Party © dpa | Axel Heimken

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was mich erwartet, hatte ich ein paar Tage zuvor ein paar meiner deutschen Freunde nach ihren persön­lichen Highlights der letzten Jahrzehnte gefragt. Und dank YouTube kann ich die meisten davon quasi „live“ noch einmal erleben. Zum Beispiel „Wadde hadde dudde da“ von Stefan Raab. Wadde hadde What??? Ich muss so lachen, dass ich vor Tränen nichts sehen kann. Ich habe nie verstanden, wie ein Mann, der in einem Wok eine Bobbahn runterfährt oder sechs Stunden lang Jungsspiele zur besten Sendezeit im TV zeigt, „König der deutschen Unterhaltung“ werden konnte. Aber nach diesem Auftritt beim ESC fange ich an zu verstehen. Einer der coolsten und verrücktesten Songs, die ich je gehört habe. Herr Raab, dada wadda super!

Oder Conchita Wurst, die (oder der?) österreichische Gewinner(in) 2014! Ein Transvestit mit einer Stimme aus Gold und einem Bart, der in der ganzen Welt berühmt wurde. Und natürlich erzählt mir jeder von Nicole und ihrem Hit „Ein bisschen Frieden“ aus dem Jahr 1982.

David Patrician und Nicole
David Patrician und Nicole © David Patrician | David Patrician

Nach ein paar Versuchen – und ein bisschen American Charme – schaffe ich es tatsächlich, Nicole zu treffen und mit ihr über den ESC zu schnacken. Sie sagt, dass Hamburg schon immer das Herz des ESC in Deutschland gewesen ist und dies auch an diesem Abend mit der größten Party im Land unter Beweis stellt. Dieses Jahr ist sie Mitglied der deutschen Jury und präsentiert ihr neues Album auf der Bühne. Sie erzählt mir von ihren ESC-Erfahrungen, ihrem Sieg vor 35 Jahren und wie dieser ihr Leben verändert hat. Ihr Final Tipp ist – ich sollte auf alles gefasst sein. Ein paar Stunden später weiß ich, was sie damit meinte.

Solider Auftritt von Levina

Hallelujah … mit Tausenden Fans im Regen schaue ich hin: Ein Mann singt mit einem Gorilla (Italien), durchtrainierte Männer planschen halb nackt in einem Wasserbecken (Griechenland), und ein Rapper tritt mit einer Jodlerin und Kanonen auf (Rumänien)! Meine persönlichen Favoriten sind Lucie Jones für Großbritannien (was für eine Stimme!) und die Moldauische Band Sunstroke Project mit ihrem Ohrwurm „Hey Mamma“. Und natürlich feiert die Menge auf der Reeperbahn Levinas Song, applaudiert mit Begeisterung und schwenkt Deutschlandfähnchen durch die Luft. Levina liefert für Deutschland mit „Perfect Life“ einen soliden Auftritt ab, aber ich finde den Auftritt verglichen mit anderen ein bisschen langweilig.

Ich komme mit ein paar Hardcore-ESC-Fans ins Gespräch und merke, dass es beim Song Contest nicht immer nur um sinnbefreiten Spaß geht, auch wenn einige Auftritte das vermuten lassen. Ob es Conchitas Forderung nach Gleichheit für alle war oder der letztjährige Gewinnersong aus der Ukraine (1944), der ESC ist und war auch immer von der Politik und aktuellen Ereignissen beeinflusst.

Nach der über eine Stunde dauernden Stimmabgabe der 42 Länder nähert sich „Europa sucht den Superstar“ dem Ende. Als die Punkte hereinkommen, wird die Stille immer größer, denn Deutschland ist lange auf dem letzten Platz. Als Levina endlich erlösende drei Punkte bekommt, gibt es kein Halten mehr – die Fans singen und jubeln – danke Irland! Ich höre oft: „Immerhin landen wir nicht auf dem letzten Platz.“ Und am Ende ist der Gewinner ... Portugal!?! Das habe ich nicht kommen sehen.

Der Gewinner kein Siegertitel

Der Auftritt von Salvador Sobral war nett, anders und bewegend. Aber zumindest für mich kein ESC-Siegertitel. Als Amerikaner stehe ich auf eine gute Lichtshow und viele Effekte. Aber andererseits steht der Sieg für die wahren Werte des ESC, denn eigentlich soll es hier nicht um die Show, sondern um Musik und Text gehen. In seiner Dankesrede sagt er, dass sein Sieg auch ein Erfolg für Musik mit Bedeutung ist.

Die Party muss in Hamburg weitergehen, Barbara Schöneberger ist zurück auf der Bühne und bringt jeden zum Lachen. Helene Fischer rockt die Menge – und ich frage mich: Helene, maybe you ... can make ESC great again?