Hamburg. Star-Pianist Igor Levit spielte an der Stelle des erkrankten Lang Lang in der Elbphilharmonie und gab sein Debüt früher als geplant.

Es sind dann doch die kleinen Gesten, die in den entscheidenden Momenten den großen Unterschied ausmachen können. Vor und nach jedem gespielten Stück berührte oder klopfte Igor Levit kurz und sanft die Flanke des Steinway-Flügels. Wir machen das hier klar, sagte die Handbewegung, entspann dich, Kumpel. Wird schon. Das hier wird anstrengend sein, aber auch eine Menge Spaß machen. Und nach den letzten, ins Nichts verschwindenden, silbrig weichen Tönen aus Liszts Bearbeitung von Wagners Isolde-Liebestod („ertrinken, versinken, unbewusst, höchste Lust“ sind die letzten Worte im Opern-Original) liebkoste Levit, von der Inbrunst dieser Musik mitgerissen, die Tastatur geradezu, wie zum schmerzhaften Abschied von diesem Konzert, das für ihn ein ganz spezielles war. Kein Abschied, sondern wohl eher das Versprechen eines erhofften Wiedersehens.

Debüt kam früher als geplant

Bei unbekannteren Pianisten wäre dies der Stoff, aus dem Lebenslauf-Legenden sein können: auf den ziemlich letzten Drücker für einen erkrankten Star-Pianisten spielen, dessen Tickets auf dem Schwarzmarkt zu abstrusen Höchstpreisen gehandelt wurden. Nicht als Ersatz, sondern als echte Alternative. Zehn Minuten hatte es am Freitagvormittag gedauert, bis die letzten Karten für ein frisches Elbphilharmonie-Konzert vom Markt waren. Die letzten 200, die für Last-minute-Umtäusche von nachzüglerischen Lang-Lang-Interessenten zurückgehalten wurden, gingen kurz vor Konzertbeginn weg wie heiße Gourmet-Semmeln.

Igor Levit allerdings ist schon seit Jahren nun wirklich kein unbekannter Pianist mehr. Dass er zunächst sehr kurzfristig die durch Lang Langs Grippe verursachte Lücke im Elbphilharmonie-Sortiment und dann den Großen Saal (und außerdem rund 100 Bühnenplätze) füllte, war also kein Wagnis, sondern eine Chance für sein angemessenes Debüt dort. Das nun eben früher kam als geplant. Und wie erwartet durchweg überzeugend gelang.

Schubert fast, aber Beethoven

Levits Programm war ebenso anspruchsvoll wie typisch für ihn. Die zwei späten Beethoven-Sonaten Nr. 28 und 29 spielte er mit überzeugender Klarheit, gut strukturiert und mit poetischer Gestaltungsfreude. Opus 90, die mit nur zwei kurzen Sätzen harmloser wirkt, als sie ist, die letzte vor den schweren „späten“ Sonaten. Hier, und erfreulicherweise nicht nur hier, hielt sich Levit an die buchstabengenau zu befolgende Spielanweisung „Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck“, hebelte also nicht durch hastiges Beeindruckenwollen die abverlangte Motivarbeit gegen den inneren Dialog der musikalischen Gedanken aus. Den zweiten Satz spielte er, wie er war: als schlichtes Gedicht einer perfekten Melodie, die mit jeder dezenten Ausschmückung lieblicher wurde. Schubert fast also, aber van Beethoven.

Opus 101 dagegen gestaltete Levit als Bündel aus Gegensätzen – ein fein inniger Kopfsatz, gefolgt von einem Spiel mit der Idee eines Marsches, bevor Levit mit dem Adagio behutsam Licht in einen wunderschönen Abgrund bringt, rhapsodisch aufblühend und allein mit sich ohne den störenden Rest der Welt, bevor das Finale wieder auf den Boden von Tatsachen zurückführen kann und muss.

Warm und melancholisch

In Schuberts sechs „Moments musicaux“ ging es Levit weniger um die konsequent durchdachte und schlüssige Formvollendung musikalischer Ideen, die sich wie im Kopfsatz von Beethovens Opus 90 schon aus einem Auftakt-Motivkern entwickeln können. Nun war er vor allem ein ausdrucksstarker Kurzgeschichtenerzähler, ein romantischer Freigeist, der die Schicksals-Schattierungen von Schuberts Grübeleien zu deuten wusste. Hier mit Untertreibung zu glänzen und die kleine Form groß wirken zu lassen, ist die eigentliche Herausforderung.

Levit spielte Kammermusik für eine Person, mit einem Ton, der dezent war, warm, herbstlichtweich und melancholisch unterfüttert. Nr. 1: ein Wechselspiel aus Zuneigung und Abweisung, Nr. 2 suchend vernebelt, bei Levit ein versonnenen Hilfeflüstern. Das populäre dritte Charakterstück hauchte er fast auf die Tastatur, ein russisch verspieltes Ballett für Fingerspitzen nur und das größtmögliche Kontrastmittel zum Kraftakt nach dem Schubert. Denn mit der 7. Klaviersonate von Prokofiew kam der Virtuose zu Wort, der extreme Innenspannung und motorischen Drive klug auf einen Nenner brachte, obwohl das Stück zunächst krachend auf alle klassischen Konventionen eindrischt.

Auch auf dieses kräftezehrende Wechselbad der Gefühle ließ sich Levit furchtlos ein – hier die scharfkantigen Eruptionen im Kopfsatz, da, im Andante das schwebende, haltlos irrende Etwas, bevor im Finale alle Dämme brechen müssen und eine Fingerknochenbrecher-Toccata manisch pulsierend losrast.

Man hätte Lang Lang an diesem denkwürdigen Abend vermissen können. Doch das wäre ein Fehler gewesen, weil er und Levit zwar das gleiche Instrument, deswegen aber nicht in einer Liga spielen.