Hamburg . Stefanie Hernandez unterrichtet in Harburg Mädchen und Jungen aus Kriegsgebieten – und trotzt unbeirrt allen Schwierigkeiten.
Ayman* lässt seinen Zeigefinger über die einzelnen Buchstaben gleiten und reiht langsam Wort für Wort aneinander: „Im Frühling blüht hier ganz viel, wie in meinem Dorf in Syrien. Aber Jasmin habe ich hier noch nicht gesehen“, liest der Zehnjährige aus seinem roten Arbeitsheft langsam vor, macht eine kurze Pause, dann liest er konzentriert weiter: „Ich vermisse unseren Jasminbaum aus Syrien und seinen süßen Duft.“ Wieder eine kurze Pause, jetzt fehlt nur noch ein Satz: „Im Frühling feiert man hier ein anderes Fest.“
Stefanie Hernandez unterbricht: „Sehr gut, Ayman“, lobt die Lehrerin, und fragt in die Runde: „Wer weiß denn, welches Fest wir im Frühling in Deutschland feiern?“ Sofort schnellen die Finger nach oben. Nun darf Rafik die Antwort geben: „Das Osterhasenfest“, sagt der Syrer. Er ist elf Jahre alt. „Da werden Eier angemalt, und für die Kinder gibt es Schokolade.“
Die Pädagogin Hernandez ist zufrieden. „Fast richtig“, sagt sie. „Eigentlich heißt das Osterhasenfest bei uns Ostern.“ Hernandez betont jeden Buchstaben: „O-S-T-E-R-N“. Und die ganze Klasse wiederholt: „O-S-T-E-R-N“.
Beim Osterfest vor einem Jahr hieß Stefanie Hernandez noch Stefanie Thielecke und arbeitete im 10.000 Kilometer entfernten Ecuador. Zweieinhalb Jahre lang unterrichtete sie an einer deutschen Schule in Guayaquil gut verdienende Deutsch-Ecuadorianer, ehe sie im vergangenen Sommer zurück nach Hamburg kam, heiratete und eine sogenannte Internationale Vorbereitungsklasse (IVK) übernahm.
88 Prozent mit Migrationshintergrund
„Für uns war Frau Hernandez ein echter Glücksgriff“, sagt Banu Graf, die Schulleiterin der Grundschule Kerschensteinerstraße. Die Harburger Schule hat den Sozialindex (auch Kess genannt) eins, gilt also als Schule mit sehr schwierigen sozialen Rahmenbedingungen. „88 Prozent unserer Schüler haben einen Migrationshintergrund, viele können kaum oder gar kein Deutsch.“ Gute Menschen werden hier gebraucht. Keine Gutmenschen. „Wir brauchen Lehrer und Lehrerinnen, die so extrem engagiert sind wie Frau Hernandez.“
Die engagierte und vor allem pragmatische Frau Hernandez sitzt am späten Nachmittag im Café Moraba im Schanzenviertel, lehnt sich erschöpft zurück und bestellt eine große Maracujasaftschorle. „Am meisten freue ich mich über die Reaktionen meiner Schüler“, sagt die 28 Jahre junge Lehrerin und lächelt. Stefanie Hernandez lächelt viel, obwohl es in ihrem Alltag oft nicht viel zu lächeln gibt. „Natürlich haben auch wir unzählige Probleme. Aber es lohnt sich einfach, nach Lösungen zu suchen“, sagt sie. „Für die meisten Schüler ist man hier als Lehrerin eine Heilige. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie unglaublich dankbar die Kleinen sind. Sie saugen jede Unterrichtsstunde förmlich auf und lernen jeden Tag besseres Deutsch.“
Der Bedarf ist riesig. Während 2012 nur 77.000 Asylanträge in Deutschland gestellt wurden, waren es mit dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2016 mehr als 745.000 Anträge. Das Deutschlernen ist ein Ziel der sogenannten IVK-Gruppen, von denen es in Hamburg mittlerweile 153 gibt.
Vorbereitung auf das deutsche Schulleben
In diesen speziellen Vorbereitungsklassen mit maximal 18 Schülern sollen die Kinder von Zugewanderten auf das deutsche Schulleben vorbereitet werden. Für einen begrenzten Zeitraum von maximal einem Jahr werden hier traumatisierte Flüchtlingskinder genauso wie andere Kinder von Zugewanderten aus der ganzen Welt unterrichtet. Zu Hernandez’ Klasse gehören Syrer, ein Afghane, ein Türke, Bulgaren, Rumänen, aber auch ein Kroate, ein Chinese und eine Spanierin.
„Natürlich ist das ein anderes Unterrichten als in einer normalen Schulklasse“, sagt Hernandez. Zum verabredeten Mittagessen nach der Schule kommt sie zu spät, weil sie noch mit den Erziehungsberechtigten von Faysal, einem elfjährigen Afghanen, sprechen musste.
Gerade wurden sechs Mitarbeiter des Roten Kreuzes in Afghanistan getötet, aber Teile des Landes am Hindukusch gelten seit Kurzem wieder als „sicher“, was Hernandez beunruhigt. „Jeder der Schüler hat seine ganz eigene Geschichte“, sagt sie. „Auf die muss man natürlich Rücksicht nehmen.“
Über die Balkanroute nach Deutschland
Faysal ist über die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Neben einem Foto, auf dem der kleine Afghane an der Pinnwand im Klassenzimmer grinst, sind sein Lieblingsessen („Pittza“), sein Hobby („Fußbal“) und seine Lieblingsmusik („IPot“) notiert. Aida kommt aus Syrien und mag am liebsten „Eis“, „Seilspringen“ und das Lied vom „Bruder Jakob“. Und der Rumäne Laurean liebt „Pita“, „Fuzbal“ und „Muzic“.
Hernandez hat Schüler, die dem Krieg nur wie durch ein Wunder entkommen sind. Es gibt Kinder in der Harburger Grundschule, die berichten im Nebensatz von Mord und Folter, und es gibt Schüler, die wissen nicht einmal, wie alt sie sind, weil in ihrem Flüchtlingspass als Geburtsdatum einfach der 1. Januar eingetragen wurde. „Vielen Kindern wurde alles genommen“, sagt Hernandez. „Sogar ihr Geburtstag.“
Man kann leicht verzweifeln, wenn man tagtäglich mit den Folgen der großen Politik im kleinen Harburg zu tun hat. Oder man kann es einfach lassen.
„Wir schaffen das ganz sicher“
Knapp anderthalb Jahre nachdem Angela Merkel am 31. August 2015 in der Bundespressekonferenz in Berlin die drei berühmten Worte „Wir schaffen das“ gesagt hat, ist sich Stefanie Hernandez mehr als sicher, dass die viel kritisierte Bundeskanzlerin recht hat. „Wir schaffen das“, wiederholt die Lehrerin, die für „schaffen“ verantwortlich ist. Und die das „wir“ persönlich nimmt: „Wir schaffen das ganz sicher.“
Man muss gedanklich eine Weltreise von Lüneburg über Shanghai bis nach Guayaquil und zurück nach Hamburg machen, um Hernandez‘ Optimismus zu verstehen. In Lüneburg studierte Hernandez zunächst Deutsch, Geschichte und Sachunterricht auf Lehramt, als sie als 19 Jahre junge Studentin freiwillig eine Sprach-Lernklasse übernahm.
„Plötzlich unterrichtete ich viel ältere Studenten, die aus der ganzen Welt nach Deutschland kamen“, erinnert sich die Wahl-Mundsburgerin, die sich von der Weltoffenheit ihrer Schüler-Kommilitonen schnell anstecken ließ: „Ich wurde immer nach meinen schlimmsten Erfahrungen gefragt, nach respektlosen Nordafrikanern oder Muslimen, die mir ein Kopftuch vorschreiben wollen“, erinnert sich die Pragmatikerin an eine Zeit, in der die AfD, Marine Le Pen und Donald Trump noch keine Rolle spielten. „Das Problem an der ganzen Sache ist nur, dass ich ausschließlich positive Erfahrungen gemacht habe. Vielleicht habe ich aber auch einfach nur ganz viel Glück gehabt.“
In Hamburg gibt es 153 Vorbereitungsklassen
Glück war es auch, als sie nach einem Freiwilligenjahr in Shanghai, dem Referendariat in Harburg und zweieinhalb Jahren in Ecuador von der IVK-Stelle in ihrer alten Referendariatsschule erfuhr. „Als ich von der IVK-Gruppe an meiner früheren Schule gehört habe, wollte ich unbedingt zurück und genau so eine Klasse übernehmen“, sagt Hernandez, die ihren Mann Jorge nicht lange überreden musste. „Er kann am besten verstehen, dass diese Kinder Hilfe brauchen, weil er ja selbst auch nur ein Gast in Deutschland ist.“
Für Jorge Hernandez ist Deutschland ein ganz erstaunliches Land: „Die Busse und Bahnen kommen pünktlich, alles funktioniert, allen geht es gut“, sagt der Südamerikaner, für den aber besonders seine eigene Frau eine ganz erstaunliche ist: „Steffi ist eine Problemlöserin. Auch bei ihr funktioniert alles, den Leuten geht es trotz aller Schwierigkeiten gut bei ihr.“
Schwierigkeiten hat natürlich auch Stefanie Hernandez mehr als genug. „Manchmal erzählen mir Schüler von einem Ausflug ins Phoenix-Center und im gleichen Atemzug von einer Autobombe in Syrien“, sagt die Lehrerin, die auch nach der letzten Schulstunde noch keinen Feierabend hat. „Oft sind es die Kinder, die in ihren Familien am schnellsten Deutsch lernen. Dann müssen sie plötzlich bei Behördengängen oder Visaangelegenheiten helfen, womit sie natürlich total überfordert sind.“
„Meine Onkelfrau hat das Essen gemacht“
Ein wenig überfordert ist an diesem Vormittag auch Ayman, der beim Thema „Osterfeuer“ von einem Grillfest in seiner Heimat Damaskus berichten will. Ein ganz großes Feuer habe es gegeben und ganz viel Fleisch. Als er aber sagen soll, wer alles dabei war, fällt ihm das entscheidende Wort nicht ein. Ayman denkt angestrengt nach, dann sagt er: „Meine Onkelfrau hat das Essen gemacht.“
Stefanie Hernandez verbessert: „Deine Tante, oder?“ Jetzt strahlt Ayman. „Ja“, antwortet der Syrer. „Meine Tante hat das Essen gemacht. Sehr lecker.“ „Sehr gut“, sagt Hernandez. Und lächelt.
* Auf Wunsch der Schule hat das Abendblatt die Namen der Schüler geändert.