Hamburg. Morgen ist der „Tag der seltenen Erkrankungen“. Er soll exotische Leiden bekannt machen. Damit kein Arzt Lia wieder ratlos nach Hause schickt.
Die kleine Lia holt nach und nach jedes einzelne Bilderbuch aus dem Regal im Sprechzimmer der Kinderklinik und läuft damit freudestrahlend zu ihrer Mutter. Aufmerksam beobachtet sie ihre Umgebung - sie ist ein neugieriges und aufgewecktes Kind. Wer das zweijährige Mädchen beobachtet, würde kaum vermuten, dass sie sich noch vor ein paar Monaten nicht allein bewegen konnte. Lia leidet am seltenen Gendefekt, der sogenannten Tyrosinhydroxylase-Defizienz.
Plötzlich konnte Lia sich nicht mehr bewegen
An der Neurotransmitterkrankheit leidet nur einer von 350 000 Menschen. Bis zu ihrem sechsten Lebensmonat entwickelt sich Lia altersentsprechend. Dann verliert sie bereits erlernte Fähigkeiten, zuerst kann sie ihr Köpfchen nicht mehr heben, ein paar Wochen später nicht einmal mehr zur Seite drehen. Schließlich kann sie keine Greifbewegungen mehr ausführen und hat starke Sehstörungen. Niemand kann Olga Becker sagen, was ihrem Kind fehlt.
„Es war wirklich schlimm. Jeder Arzt schickte uns wieder nach Hause. Man kann sich ja ausmalen, was es heißt, wenn ein Kind sich plötzlich gar nicht mehr bewegen kann“, sagt die 34-Jährige mit Tränen in den Augen. Ein Osteopath, bei dem sie Hilfe sucht, schickt sie im Februar 2016 ins Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Anhand der Symptome fällt der Verdacht schnell auf eine seltene Erkrankung.
UKE - Kompetenzzentrum für seltene Krankheiten
Am UKE ist das „Martin Zeitz Centrum für Seltene Erkrankungen“. Dort sind zwölf Kompetenzzentren assoziiert, die sich durch eine besondere Expertise auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen auszeichnen. Ziel ist es, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten zu erforschen, die Diagnostik, Therapie und Betreuung zu verbessern und die ärztliche Aus- und Weiterbildung auf dem Gebiet zu fördern.
Eine Krankheit gilt als selten, wenn weniger als 5 von 10 000 Menschen an ihr leiden. In Deutschland gibt es rund vier Millionen Betroffene, etwa die Hälfte Kinder und Jugendliche. Um sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken, wurde 2008 der 28. Februar als „Tag der seltenen Erkrankungen“ von der Eurodis, einer Allianz von Patientenorganisationen, ins Leben gerufen. Mittlerweile beteiligen sich daran weltweit mehr als 80 Länder. Auch das „Martin Zeitz Centrum„ hat für Dienstag diverse Veranstaltung geplant.
Gen-Analyse bringt endlich Klarheit
Im Fall von Lia veranlassen die Humangenetikerin Maja Hempel und der Kinderarzt Chris Mühlhausen eine sogenannte Exom-Sequenzierung. Mit diesem neuen Verfahren ist es möglich, das gesamte genetische Material eines Menschen zu untersuchen. Eine weitere quälende Woche muss Olga Becker auf die Ergebnisse warten. Während dieser Zeit hat sie einen Termin zur Standard-Kindervorsorgeuntersuchung bei ihrem angestammten Kinderarzt. Er nimmt der jungen Frau jegliche Hoffnung auf Besserung. „Er sagte, ich solle mich auf Langzeitschäden bei Lia einstellen“, erzählt die Mutter.
Dann erhält sie den Anruf, der alles verändert – die Ärzte haben eine Diagnose. „Das war für mich der schönste Tag“, sagt Becker. „Allein die Tatsache, dass man eine Diagnose stellt, auch wenn man nichts tun kann, bietet eine ungeheure Erleichterung“, erklärt Mühlhausen. „Studien haben gezeigt, dass sich dadurch die Lebensqualität der Familien um 25 Prozent verbessert“, fährt er fort. Glücklicherweise gibt es für den Gendefekt von Lia eine Therapiemöglichkeit.
Nach wenigen Tagen wirkt die Therapie
Nach der Medikation mit L-Dopa, einem Vorstoff des körpereigenen Dopamin, verbessert sich Lias Zustand bereits nach wenigen Tagen. Sie fängt wieder an zu lachen, wird aufmerksamer und bekommt in den folgenden Wochen wieder mehr Kraft im Körper und kann schließlich auch ihr Köpfchen wieder heben. Heute erweckt sie nicht mehr den Eindruck eines kranken Kindes.
Für die Mediziner ist Lia ein ganz besonderer Fall. „Das sind tolle Momente“, sagt Mühlhausen. „Als ich 2001 als Kinderarzt anfing, konnte man bei fünf bis zehn Prozent der Kinder mit unklaren Entwicklungsverzögerungen eine Diagnose stellen. Dank der Exom-Sequenzierung liegen wir jetzt bei 70 bis 80 Prozent.“
Zeit spielt eine entscheidende Rolle
Besonders wichtig sei es, möglichst früh die Diagnose zu stellen. „Bei Lia haben wir sie mit neun Monaten gehabt. Im Mittel wird die Diagnose erst mit drei Jahren gestellt. Dann kann man die Bewegungsstörung verbessern. Aber viele Defizite, die die Kinder schon entwickelt haben, kann man nicht mehr aufholen“, sagt Hempel. „Uns geht es ja genauso wie Lias Mutter – wir sind immer wieder begeistert. Wir können beileibe nicht allen Kindern helfen und deswegen ist Lia auch so etwas besonderes für uns alle.“ (dpa)