Hamburg. Hamburger Medizingeschichte, Teil 6: Die Infektion verbreitete sich über die Stadt. Danach wurde Trinkwasser auf Kaltehofe filtriert.

Die Menschen leiden unter Brechdurchfall und Fieber, ihre Haut wird faltig, die Augen sinken tief in die Höhlen, die Lippen werden blau und die Kranken sterben innerhalb weniger Tage – 1892, vor 125 Jahren, wütete die Cholera in Hamburg. Mehr als 8000 Menschen starben den „blauen Tod“, wie er auch genannt wurde. Schon Heinrich Heine sprach 1830 über die Cholerakranken mit ihrem „veilchenblauen“ Gesicht.

Es gab keine Gegenmaßnahmen

Begonnen hatte alles im August. Am 17. August wurde der erste Kranke mit Verdacht auf Cholera in das Allgemeine Krankenhaus in St. Georg eingeliefert.

Doch bis die Krankheitsursache tatsächlich festgestellt wurde, vergingen noch einige Tage und wertvolle Zeit, in der sich viele Menschen mit den Keimen ansteckten.

Denn der einzige, der sich in Hamburg mit der neuen Wissenschaft Bakteriologie gut auskannte, war Eugen
Fraenkel, Leiter der Pathologie am Neuen Allgemeinen Krankenhaus in Eppendorf. Und der war im Urlaub. Nach seiner Rückkehr stellte er zwar durch Untersuchung einer Stuhlprobe die Diagnose. Aber da zur Sicherstellung eine Anzüchtung der Bakterien erfolgen musste, gingen wieder mehrere Tage ins Land, in denen immer mehr Menschen erkrankten, ohne das Gegenmaßnahmen getroffen wurden.

Epidemie durch verseuchtes Elbwasser

„Das hat wahrscheinlich auch daran gelegen, dass sich zu der Zeit die Bakteriologie noch nicht wirklich durchgesetzt hatte. Viele glaubten lieber an die Theorie von Max von Pettenkofer, wonach die Infektion aus dem Boden aufstieg. Mit dieser Theorie waren auch weniger wirtschaftliche Konsequenzen zu befürchten, weil eine Quarantäne nicht wirklich dagegen half“, sagt Philipp Osten, kommissarischer Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Eppendorf.

Doch als auch die Anzüchtung der Bakterien das Untersuchungsergebnis von Fraenkel bestätigte, war an der Tatsache nicht mehr zu rütteln: Hamburg erlebte eine schwere Choleraepidemie. Der Höhepunkt war am 27. August, als an einem Tag 1024 Erkrankungsfälle gemeldet wurden.

Ausgelöst wurde die Epidemie durch das Elbwasser, das durch die zentrale Wasseranlage über die ganze Stadt verteilt wurde. Eine Filtration durch Sand, wie es sie bereits in Altona gab, existierte in Hamburg noch nicht, sie befand sich gerade im Bau.

Robert Koch kam aus Berlin

Am stärksten betroffen waren die ärmsten Stadtviertel wie die Gängeviertel in der Alt- und in der Neustadt und die Arbeiterviertel in Barmbek. Wer es sich leisten konnte, verließ die Stadt. Deswegen gab es auch in den reicheren Vierteln wie zum Beispiel Harvestehude und Rotherbaum weniger Kranke. „Außerdem war man dort – schon wegen der vorausgegangenen Typhusepidemie – oft schon dazu übergegangen, das Trinkwasser ständig abzukochen“, sagt Osten.

Doch allen war klar, dass etwas geschehen musste, um die Epidemie einzudämmen. „Robert Koch, der den Cholera-Erreger entdeckt hatte, kam aus dem preußischen Berlin nach Hamburg und übernahm die Leitung des Managements“, sagt Osten.

Öffentliches Leben war lahmgelegt

Das begann damit, dass man die Menschen vor dem Trinkwasser warnte, allerdings schon zu einem Zeitpunkt, an dem die Epidemie bereits außer Kontrolle war. Dann wurde abgekochtes Trinkwasser in großen Wagen durch die Stadt gefahren und an die Bevölkerung ausgegeben. Wer es geschafft hatte, die Stadt zu verlassen, musste damit rechnen, aus dem Zug geholt und unter Quarantäne gestellt zu werden. „Die Wirtschaft im Hafen kam komplett zum Erliegen. Denn die Schiffe, die den Hafen verließen, durften in den Zielhäfen nicht anlegen, ihre Ladung nicht löschen. Den Schiffen, die bereits den Hafen verlassen hatten, wurden Boote hinterhergeschickt, um sie von den Anordnungen zu informieren“, sagt Osten. Das gesamte öffentliche Leben in der Stadt war lahmgelegt. Um die vielen Kranken behandeln zu können, wurden in Eppendorf zusätzlich die Erikastation im Eppendorfer Park und das Cholera­lazarett auf dem Gelände des Krankenhauses eingerichtet.

Öffentliche Armenfürsorge

Die Behandlungsmaßnahmen der Schulmedizin waren eingeschränkt. Heute weiß man, dass die Kranken vor allem Flüssigkeit und Elektrolyte brauchen. „Noch während der Choleraepidemien der 1830er-Jahre hat man den Patienten das Trinken verboten und sie sogar zur Ader gelassen und damit den Flüssigkeitsmangel noch verstärkt. Da hatten die Kranken bessere Überlebenschancen, die homöopathisch behandelt wurden, denn ihnen hat man nicht das Trinken verboten“, erzählt Osten. Um die vielen Toten zu beerdigen, wurden in Ohlsdorf Massengräber ausgehoben. Als die Epidemie Anfang Oktober vorbei war, hatte der „blaue“ Tod mehr als 8000 Menschenleben gefordert.

Der Senat wollte jetzt vor allem Maßnahmen treffen, um weitere Epidemien zu verhindern. Unmittelbare Folge war die Einrichtung einer öffentlichen Armenfürsorge. „Aus Iserlohn wurde der Armenwissenschaftler Emil Münsterberg nach Hamburg geholt, um die Armenpflege in Hamburg zu modernisieren. Er sorgte erst mal dafür, dass die Gelder der Armenfürsorge nicht mehr ehrenamtlich durch die Kneipenwirte an die Armen ausgegeben werden. Denn diese gängige Praxis führte gelegentlich dazu, dass der männliche Familienvorstand gleich das gesamte Geld am Tresen ließ“, sagt Osten.

Bürgerliche Frauen wurden Armenpflegerinnen

Stattdessen wurde die Armenfürsorge in die Hände bürgerlicher Frauen gelegt. Als Armenpflegerinnen besuchten sie die Menschen in ihren Wohnungen, protokollierten die Verhältnisse, sorgten dafür, dass Tuberkulosekranke ein eigenes Zimmer bekamen. Aber das alles kostete Geld – Geld, das der Senat nicht bezahlen wollte. „Nach eineinhalb Jahren hat sich Münsterberg mit dem Senat überworfen. Denn dieser vertrat die Theorie: Je mehr Armenpflegerinnen man anstellt, desto mehr Bedürftige wird man auch entdecken“, sagt Osten. Aber trotz dieses Zerwürfnisses blieben die Armenpflegerinnen weiter im Amt.

Bald nach der Epidemie war auch die Sandfiltration auf der Elbinsel Kal­tehofe fertiggestellt, Bauvorschriften, wonach alle Neubauten Zuwasserleitungen haben und an die Kanalisation angeschlossen werden mussten, wurden auf alle Gebäude ausgedehnt. Doch in den Gängevierteln passierte wenig: Es wurden zwar Zuwasserleitungen gelegt, aber die Enge blieb, ebenso wie die feuchten, dunklen Wohnungen. Erst einige Jahre nach der Epidemie wurde mit der Sanierung der Gängeviertel begonnen.