Vierter Teil: In dem Stadtteil schritt die Industrialisierung voran, schlechte Lebensbedingungen erhöhten das Risiko für die Infektion.

Wenn du nach Ottensen gehst, kriegst du die Motten“ – das war ein gängiger Spruch in der Hamburger Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gemeint damit war die Tuberkulose, die die Lunge der Kranken zerfraß wie die Motten ein Kleidungsstück. Viele Historiker gehen heute davon aus, dass daher auch die Bezeichnung Mottenburg für den Stadtteil stammt, auch wenn es noch andere Deutungen dafür gibt.

„Dass die Tuberkulose in Ottensen so verbreitet war, liegt an der besonderen Entwicklung und Struktur dieses Stadtteils“, sagt Henrik Eßler, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Eppendorf und Kurator des Medizinhistorischen Museums.

Besondere Strukturen in Ottensen

Noch bis 1864 gehörten Altona und Ottensen zu Dänemark, danach zu Preußen. Da das angrenzende Altona baulich längst mit Hamburg verflochten war, verlief die Zollgrenze zur Hansestadt zwischen Ottensen und Altona. Auch Altonaer Betriebe mussten nun hohe Zölle zahlen, wollten sie nach Dänemark und Preußen exportieren. Um das zu umgehen, verlegten viele Firmen ihre Produktionsstätten nach Ottensen. „Seit den 1850er-Jahren und mit dem Beginn der Hochindustrialisierungsphase siedelten sich dort die Tabak- und Fischindustrie, die Metall verarbeitenden Betriebe und die Glasverarbeitung an“, sagt Eßler.

Viele lebten in nassen und dunklen Kellerwohnungen

Das führte dazu, dass in dem Dorf neben alten Bauernhäusern Mietshäuser und Fabriken gebaut wurden, alles auf engstem Raum. Innerhalb weniger Jahrzehnte wuchs die Einwohnerzahl in Ottensen von 3000 auf mehr als 35.000. Wohnraum war äußerst knapp. Für ärmere Familien bot sich das sogenannte Trockenwohnen an. „Es war eine Möglichkeit, um bezahlbaren Wohnraum zu bekommen, eine gerade frisch errichtete Wohnung, häufig im Kellergeschoss, anzumieten, für die Zeit, bis die Wohnung trocken war und für mehr Geld weitervermietet wurde. Also lebten viele in nassen, engen Kellerwohnungen mit wenig Licht, insgesamt sehr gesundheitsschädlich“, sagt Eßler.

Bei diesen Lebensbedingungen wurden viele Menschen anfällig für Infektionen, insbesondere die Tuberkulose. Ungünstige Arbeitsbedingungen trugen ebenfalls dazu bei, dass sich die Krankheit, die über Tröpfcheninfektion übertragen wird, schnell ausbreiten konnte. „Zum Beispiel haben erkrankte Glasbläser dadurch, dass sie das Glas beim Formen mit dem Mund berührten, die Tuberkulose unter ihren Kollegen weiterverbreitet“, sagt Eßler.

Jahrelanges Siechtum

Möglichkeiten der Behandlung gab es im 19. Jahrhundert kaum. Durch Operationen versuchte man, den kranken Teil der Lunge stillzulegen. Dadurch haben sich einige Patienten zwar durchaus besser gefühlt, aber ausheilen konnte man die Krankheit damit nicht“, sagt Eßler. Ansonsten gab es nur die Möglichkeit, die Kranken in Lungenheilstätten zu schicken, zuerst nur für Wohlhabende, später durch die Finanzierung über die Landesversicherungsanstalten auch für die arbeitende Bevölkerung. In diesen Lungenheilstätten verordnete man den Kranken gutes Essen, Liegekuren an der frischen Luft und viel Ruhe. Dann wurden die Patienten irgendwann nach Hause entlassen – und damit oft in ein jahrelanges Siechtum. Viele waren bereits im jungen Erwachsenenalter an der Schwindsucht erkrankt und starben daran Jahrzehnte später im Alter von 50, 60 Jahren.

Hohe Sterberaten unter Glasbläsern

Ein Viertel der Todesfälle in Altona und Ottensen wurde in den 1890er-Jahren der „Schwindsucht“ und anderen Leiden der Atmungsorgane zugerechnet. Viele Kinder starben schon sehr früh an diesen Krankheiten. „Die hohe Säuglingssterblichkeit war auch durch die Tuberkulose mit bedingt. 1890/91 starben vor Vollendung des ersten Lebensjahres in Ottensen 23,4 Prozent, im 26. Bezirk, dem Wohnbezirk der Glasbläser, waren es sogar 31 Prozent. Im Vergleich dazu lag die Säuglingssterblichkeit in Othmarschen bei 7,7 Prozent“, sagt Eßler.

Die Ursachen der Tuberkulose waren lange unbekannt. Ob Erbanlagen oder schlechte Lebensbedingungen der armen Bevölkerung eine Rolle spielten, war unter Ärzten und Sozialpolitikern umstritten. Das Jahr 1882 brachte den Durchbruch. Der Mediziner Robert Koch entdeckte den Tuberkelbazillus. Damit war klar, dass es sich um eine Infektion handelte, die von Mensch zu Mensch übertragen wurde. Schlechte Wohn­bedingungen und mangelnde Hygiene erhöhten das Ansteckungsrisiko und schwächten die Abwehrkraft.

Parks und Gärten wurden für alle zugänglich

Nach der Eingemeindung von Ottensen nach Altona 1889 versuchte man von staatlicher Seite, diesem Elend etwas entgegenzusetzen. In Altona war bereits 1859 das Altonaer Kinderkrankenhaus in Betrieb genommen worden. Öffentliche Milchküchen sollten die Versorgung der Säuglinge verbessern. 1861 zog das Altonaer Krankenhaus von der Königstraße an die Max-Brauer-Allee um. Die Bettenzahl erhöhte sich von 100 auf 191. Von den 1920er-Jahren an wurden große Wohnungsbauprogramme gestartet, um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern. „Max Brauer als Oberbürgermeister und Gustav Oelsner als Bausenator haben sehr stark den sozialen Wohnungsbau vorangetrieben, um die Stadtkerne zu entlasten. Dabei wurde nach dem Prinzip Luft und viel Licht gebaut“, sagt Eßler. Parks und Gärten an der Elbe wurden zum öffentlichen Raum.

Beim Lübecker Impfunglück starben 77 Babys

Da man mittlerweile wusste, wie die Tuberkulose übertragen wurde, wurden große Aufklärungskampagnen gestartet, um die Ansteckung zu verhindern. „In bestimmten Gebieten der Stadt, in Bussen und Bahnen war es verboten, auf den Boden zu spucken, um das Infektions­risiko zu verringern. Die Menschen wurden aufgefordert, sich von den Kranken fernzuhalten, was allerdings in den engen Wohnungen kaum möglich war.“

Bereits in den 1920er-Jahren gab es einen Impfstoff gegen Tuberkulose, der in Frankreich entwickelt worden war und auch in Deutschland eingeführt werden sollte. Für einen weltweiten Schock sorgte dann aber das „Lübecker Impfunglück“. Dort starben 1930 von 256 Säuglingen, die geimpft worden waren, 77. Der Grund war aber nicht der Impfstoff selbst, sondern eine Verunreinigung, die in dem Lübecker Krankenhaus verursacht wurde. Der Schock über die vielen toten Kinder saß so tief, dass es lange Zeit nicht möglich war, die Impfung in Deutschland einzuführen. Die sogenannte BCG-Impfung wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland eingeführt. Seit 1998 wird sie von der Ständigen Impfkommission am Berliner Robert-Koch-Institut nicht mehr empfohlen, unter anderem auch wegen der nicht seltenen unerwünschten Nebenwirkungen.