Hamburg. In keinem Bundesland bekommen die Schüler so wenig Unterricht wie in Hamburg. CDU: „Erschreckende Defizite“

Nach dem Problemfach Nummer eins für Hamburgs Schüler – Mathematik – rückt nun auch Physik in den Blickpunkt. Einer Studie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zufolge (DPG) wird in keinem Bundesland so wenig Physikunterricht erteilt wie in Hamburg. Das hat offenbar auch Konsequenzen für die Leistungen: In der aktuellsten Ländervergleichsstudie von 2012 zu den Leistungen der Neuntklässler im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich belegt Hamburg beim „Fachwissen Physik“ zusammen mit Bremen vor Nordrhein-Westfalen den vorletzten Platz.

Die Berechnung der Physik-Unterrichtsstunden ist kompliziert und erweist sich im Fall Hamburgs zusätzlich als schwierig. Laut DPG-Studie erhalten die Hamburger Schüler in den Klassen fünf bis zehn der Gymnasien rechnerisch 5,78 Wochenstunden Physik. Die Zahl ergibt sich durch Addition der in jeder Klassenstufe pro Woche gegebenen Unterrichtsstunden. Sachsen und Sachsen-Anhalt kommen als Spitzenreiter auf zehn Wochenstunden – das bedeutet: Die dortigen Schüler haben von Klasse 6 bis Klasse 10 in jedem Schuljahr zwei Stunden Physik pro Woche – in der fünften Klasse gibt es keinen Physikunterricht.

Der bundesweite Mittelwert für Gymnasien liegt bei 8,62 Wochenstunden. An den Stadtteil- oder Gesamtschulen beträgt der Durchschnitt 8,18 Wochenstunden für die Sekundarstufe I. Auch hier bildet Hamburg mit 4,5 Wochenstunden das Schlusslicht. Die Schulbehörde hat Zweifel an der Berechnung, und die DPG hat daraufhin angekündigt, die Aufstellung noch einmal zu überarbeiten. Vermutlich werden sich aber nur geringfügige Änderungen ergeben.

Laut der Senatsantwort auf eine Kleine Anfrage der CDU-Schulpolitikerin Karin Prien stehen den Stadtteilschulen mindestens 18 Wochenstunden und den Gymnasien 19 Wochenstunden für den gesamten natur- wissenschaftlich-technischen Bereich in den Klassen 5 bis 10 zur Verfügung. „Die Aufteilung der Wochenstunden zwischen den einzelnen Fächern ist nicht festgelegt“, heißt es in der Senatsantwort. Soll heißen: Die Schulen entscheiden eigenständig, wie viel Stunden in Physik, Chemie, Biologie und Technik erteilt werden.

Darüber hinaus kann jedes Gymnasium für jede Klasse im Laufe der Sekundarstufe I ein Kontingent von 25 Wochenstunden (Stadtteilschulen: 19) frei auf alle Schulfächer verteilen. Die Schulen können hier eigene Schwerpunkte setzen oder den Unterricht in bestimmten Fächern verstärken. Es ist also möglich, dass die eine oder andere Stunde Physik zusätzlich gegeben wird. „Mein Eindruck ist, dass sich die Schulen in der Regel bei der Frage, wie sie zusätzliche Stundenkontingente verteilen, eher nicht für Physik entscheiden“, sagt Prof. Dietmar Höttecke, Physikdidaktiker an der Universität Hamburg. „Das liegt zum Teil schlicht daran, dass es zu wenig Physiklehrer gibt. Ich bilde nur etwa die Hälfte der Physiklehrer aus, die wir eigentlich benötigen.“

Höttecke sieht es ebenfalls als schwierig an, belastbares Zahlenmaterial zu gewinnen. „Das liegt an der Wahlfreiheit der Schulen, die keine schlechte Idee ist, aber die Behörde muss das Steuerungswissen behalten“, sagt der Hochschullehrer, denn: „Wie viel Unterricht die Schüler in Physik erhalten, ist ein zentraler Punkt. Darüber entscheidet sich, wie erfolgreich Schüler sind, aber auch, ob sie aus dem Unterricht heraus für sich Perspektiven und Interessen entwickeln.“

Apropos Lernerfolg: Der Ländervergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) aus dem Jahr 2012 weist den Hamburger Neuntklässlern beim „Fachwissen Physik“ mit einem Mittelwert von 482 Punkten den vorletzten Platz zu. Der Abstand zum Spitzenreiter Sachsen mit 544 Punkten entspricht „einem Lernvorsprung von etwa zwei Schuljahren“, wie es in der IQB-Studie heißt.

„Die Vermutung liegt nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Umfang des erteilten Unterrichts und dem Lernerfolg gibt. Wer keinen Unterricht hat, wird kaum etwas lernen, und vielleicht noch schlimmer, er wird kaum Interesse an der Sache entwickeln“, sagt Höttecke.

Schulbehördensprecher Peter Albrecht weist darauf hin, dass es seit der Erhebung der Daten im Schuljahr 2010/11 eine Reihe von Veränderungen gegeben habe. „Beispielsweise wurden nach Einführung der Stadtteilschule die Fachlichkeit in den Naturwissenschaften wieder gestärkt und statt des Mischfachs Naturwissenschaften Chemie, Biologie und Physik wieder einzeln unterrichtet“, sagt Albrecht.

Zudem seien die Klassen verkleinert und die Lehrerzuweisung erheblich erhöht und das zehnte Schuljahr zum Pflichtschuljahr gemacht worden. „Die Schulbehörde geht derzeit davon aus, dass Hamburg wie bereits in Englisch und Deutsch auch im naturwissenschaftlichen Bereich bei der nächsten IQB-Studie seine Leistungen steigern kann“, so der Sprecher.

Zu einem anderen Ergebnis kommt CDU-Bildungsexpertin Prien: „Die Hamburger Schulen halten auch in Physik die rote Laterne.“ Die DPG-Studie und die Antwort des Senats legten die Defizite des Physikunterrichts „in erschreckender Weise“ offen. „Zu wenig Unterricht, zu wenig Grundlagenwissen, keine hinreichend konkretisierten Bildungspläne, zu viel Freiheit der Schulen bei den Stundentafeln, zu wenig Fachlehrer, keine Lernkultur, die Spaß an Mathe und Physik weckt“, sagt Prien. Die Wahrheit sei schlicht: „Wer kaum Physikunterricht erhält, hat kaum eine Chance, bundesweite Standards zu erreichen oder gar ein gutes Abitur in diesem Fach zu machen.“ Es sei dramatisch, dass Schulsenator Ties Rabe (SPD) ein Jahr nach Erscheinen der DPG-Studie keine Lösungsansätze für das Problem zu haben scheine.