Hamburg. Das erste „Late Night“-Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters begann mit Klassik und endete mit Popmusik.

Kann die ElbphilharmoniePop? Bevor diese Frage beantwortet werden konnte, war im Neubau am Hafen zunächst einmal großer Pu­blikumsaustausch angesagt. Während vor dem Aufstieg zum Großen Saal eine Menschenmenge auf Einlass für den ersten „Late Night“-Abend wartete, strömten die gut 2000 Gäste eines weiteren „Konzerts für Hamburg“ hinaus. Mitten unter ihnen: Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter. Der blieb auf der Treppe kurz stehen wie ein Schäfer in seiner Herde, blickte umher, um ein Handyfoto zu schießen von den Kommenden und den Gehenden.

Ja, sein Haus war an diesem Abend eine ganz schöne Rummelbude. Das „Für alle“-Gefühl war durchaus spürbar. Sakkos, Stolas und Stilettos neben Sweatshirts, Sneakers und Zahnspangen. Demokratisch wartend vereint. Während ein Paar über die Stimme von Mezzosopranistin J’Nai Bridges fachsimpelte, diskutierten drei Frauen den Tourplan von Popmusiker Tim Bendzko. Das passt. Denn die „Late Night“-Reihe des NDR-Senders N-Joy will Klassik und Pop kombinieren. Und es zeigt: Wer sein Programm mischt, mischt auch das Publikum.

Musik mit etwas mehr Wumms

Noch hielten Kartenabreißer die Premierenbesucher auf – eine rot-bewollmützte Fünferabwehrkette, vermutlich allesamt Studenten der Psychologie, so beruhigend, wie sie lächeln konnten. Endlich im Großen Saal angekommen, zeugten extra Boxen unter der Decke und herabhängende Mikrofone bereits davon, dass an diesem Abend auch ­Musik mit etwas mehr Wumms ertönen sollte. „Abgefahren“, sagte N-Joy-Chef Norbert Grundei, den Kopf in den Nacken gelegt. Sein erster Abend in der Elbphilharmonie war zugleich sein eigener. Wahnsinnig gespannt sei er auf dieses Experiment.

Das NDR Elbphilharmonie Orchester machte den Anfang mit Beethovens Fünfter Sinfonie und Gershwins „Cuban Ouverture“. Wie detailliert und pompös und beglückend die Instrumente da einzeln und miteinander zu hören waren! J’Nai Bridges, umwerfend charismatisch in gelb glitzernder Robe, tastete sich bei Songs wie „I Got Rhythm“ schon deutlich an den mit Mikrofon unterstützten Gesang heran, konnte aber letztlich ihre Stimme mit dem Orchester erstrahlen lassen.

Bendzko – Pop-Wuschelkopf der Nation und lässig in Jeans, T-Shirt, Sakko – startete seinen Auftritt samt zehnköpfiger Band dann nach einer Dreiviertelstunde Umbaupause mit der Nummer „Leichtsinn“ - eine dicht ­arrangierte Hymne, die mit E-Gitarre und Streichern bis zu Schlagzeug und Piano auf schönste Pop-Überwältigung setzt. Seine Stimme hallte anfangs stark nach und drohte im satten Bandsound unterzugehen. Die Instrumente schienen sich mitunter zu überlappen und fortzuwehen im ­hohen Raum. Hut ab vor Band und ­Mischer, dass sie den Klang von Lied zu Lied immer feiner zu justieren wussten, bis im Laufe des Konzerts jedes Instrument, jede Stimme ihren Platz fanden.

Die Elbphilharmonie erfindet den Pop nicht neu

Reduziertere Stücke und Balladen wie „Immer noch Mensch“ und „Reparieren“ funktionierten gut. Das war wie Pop unterm Mikroskop und jedes Element ertönte wunderbar deutlich. Und wenn das Publikum dann noch mitsang, offenbarte sich ein bewegender Surround-Chor-Effekt. Die Songs mit mehr Volumen, allen voran der Überhit „Nur noch kurz die Welt retten“ waren schon wesentlich mehr Drahtseilakt.

Und, kann die Elbphilharmonie denn nun Pop? Nach dem direkten und hochspannenden Vergleich von ­Orchester und Band, von akustischem und technisch verstärktem Klang lautet die Antwort: bedingt. Wer Popmusik nicht nur als „populäre Musik“ definiert, sondern auch über ihren Effekt, über das englische „to pop“, also über das Knallen, über das Wow und den Wumms, der muss in der Elbphilharmonie Abstriche machen. Der Rundum-Sound im 360-Grad-bestuhlten Kessel lässt die ganz und gar effektvolle Frontalbeschallung wie in Clubs und Arenen nicht zu. Es fehlte das letzte Quentchen Aha-Effekt, der ultimative Kick von vorne. Die Prognose: Die Elbphilharmonie wird den Pop nicht neu erfinden. Aber: muss sie ja auch nicht.

Doch da war dann ja noch der ­Aspekt des Abends, der Pop wie „populär“ definierte: Wie die N-Joy-Moderatoren Andreas Kuhlage und Jens Hardeland da bis 1 Uhr nachts hemdsärmelig durch das Programm führten, das hatte was. Da wurde mal eben geklärt, wer im Orchester die coolste Instrumentengruppe ist (die Schlagzeuger) und eine La-Ola-Welle durch das Rund initiiert. Geschwenkte Handylichter, Zugabe-Rufe für NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock und Tanz zwischen Stuhlreihen – eine Premiere, die Spaß machte. Die aber offenbar nicht allen ausnahmslos gefiel: Nach der Pause blieben mehr als 30 Stühle leer, manche Damen und Herren gingen während Bendzkos Auftritt einfach weg. Natürlich kann jeder Kartenbesitzer mit seinem Ticket tun und lassen, was er will. Aber es bleibt der leicht schale Eindruck von: Nur mal eben kurz die Elbphilharmonie checken. Den Klassik-Teil abgreifen. Sollte nicht gelten: Wer „Late Night“ bucht, muss auch lange aufbleiben können?

Nächste „Late Night“-Termine am 17. und 18.2.: NDR Elbphilharmonie Orchester u. a. mit Strawinskys „Sacre“ / Tonbandgerät.
Beide Konzerte sind ausverkauft.