Hamburg. Das Start-up Wunder macht mit seiner Idee Städte wie Manila mobil – in Hamburg wurde der Firma das jedoch nicht erlaubt.

Den Berufsverkehr in Manila muss man sich wie eine Art Hölle vorstellen: sehr laut, sehr heiß, sehr eng, atemberaubend stickig und sehr, sehr langsam. „Morgens um 8 Uhr war die Menschenschlange vor der Bahnstation schon einen Kilometer lang. Und wenn man nach einer Stunde Warterei bei 35 Grad endlich im vollgestopften Zug steht, ist das auch nicht gerade angenehm“, sagt Patrick Arle. Er hat sich das vor einigen Monaten mal angetan.

Manila-Einwohner, die es sich leisten können, pendeln lieber per Auto zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Auch das ist kein Vergnügen. Die Straßen in der philippinischen Hauptstadt sind chronisch verstopft. „Dabei gibt es Regelungen, dass jeweils nur ein Teil der Autos an einem bestimmten Tag genutzt werden darf“, sagt Sam Baker, der das tägliche Verkehrschaos in der 15-Millionen-Einwohner-Metropole ebenfalls aus eigener Anschauung kennt.

Jetzt sitzen die beiden jungen Männer in einem zum Bürohaus umgebauten Speicher in der Hamburger HafenCity und arbeiten mit daran, Pendlern in Manila das Leben ein bisschen zu erleichtern. Arle und Baker gehören zum Führungsteam des Hamburger Start-ups Wunder. „Manila ist ein Versuchslabor für uns. Dort testen wir, was in Hamburg entwickelt wurde“, sagt Gründer und Geschäftsführer Gunnar Froh. Wunder sammelt in Südostasien – 10.000 Kilometer Luftlinie von der Hansestadt entfernt – Erfahrungen, die das Unternehmen bald auch in Deutschland nutzen wird.

Begonnen hat die Idee mit Car Sharing

Vor drei Jahren und kurz nach der Gründung des Unternehmens, das damals noch Wundercar hieß, war Hamburg selbst zeitweise ein solches Labor. Wundercar hatte eine digitale Mitfahrzentrale für kurzfristige private Autofahrten in der Stadt geschaffen. Nutzer konnten freie Sitzplätze in ihrem Auto anbieten oder einen Platz buchen. Der Preis war damals Verhandlungssache, Wundercar wickelte die Überweisung ab. Doch die Wirtschaftsbehörde sah die Gefahr, dass sich das System zur unzulässigen Konkurrenz für das Taxigewerbe entwickelt und verbot die Mitfahr-App für die Stadt.

Was das Unternehmen jetzt erprobt, wird in der digital denkenden Mobilitätsbranche Urban Car-Pooling genannt, was zu Deutsch etwa „gemeinsame Autonutzung in Städten“ bedeutet. Das ist schon jetzt ein wichtiges Thema in den Megacitys mit mehr als zehn Millionen Einwohnern sowie schlechtem öffentlichen Verkehrsnetz – und gilt hierzulande als Zukunft des Individual- und Nahverkehrs in der Stadt.

Begonnen hat diese Zukunft mit Car Sharing. Allein Car2go, hinter dem der Daimler-Konzern steht, hat in Hamburg nach eigenen Angaben 146.000 registrierte Nutzer. 26.000 seien im vergangenen Jahr hinzugekommen, teilte das Unternehmen kürzlich mit. Konkurrent DriveNow, an dem BMW und der Autovermieter Sixt Anteile halten, vermeldete für 2016 einen Nutzerzuwachs von 42 Prozent auf mehr als 800.000 Kunden weltweit. Car-Sharing wird zwar ständig um neue Services erweitert, gilt aber fast als alter Hut.

Hansa Taxi und der Vermittler myTaxi wollen in den nächsten Monaten in der Hansestadt geteilte Fahrten mehrerer Personen anbieten, die streckenweise gemeinsam im Taxi sitzen und dadurch Geld sparen. Mit Clevershuttle und der VW-Tochter Moia haben gleich zwei Unternehmen angekündigt, noch im Laufe dieses Jahres geteilte Fahrten auf kurzfristigen Abruf in Hamburg anzubieten. Die Preise sollen deutlich geringer sein als im Taxi, die Autos werden von festangestellten Fahrern gesteuert. Beide Firmen sehen sich als Ergänzung zu Bussen und Bahnen des HVV und wollen mit dem Hamburger Verkehrsverbund eng kooperieren.

Was in Hamburg verboten wurde, ist in Manila gut angelaufen

Was in Hamburg damals verboten wurde, ist für Wunder in Manila seit Anfang 2016 vielversprechend angelaufen: Gut 200.000 Nutzer haben die App heruntergeladen, ein Drittel davon sind Autobesitzer und Fahrtenanbieter. Mehr als eine Million Mitfahrten habe das Unternehmen binnen eines Jahres organisiert, sagt Gunnar Froh. In gut 30 Großstädten in Schwellenländern hatte das Start-up zuvor das Interesse an seinem System getestet, unter anderem in Kenias Hauptstadt Nairobi und im brasilianischen Sao Paolo. Für Manila sprach auch, dass der größte Teil der Bevölkerung dort Englisch spricht.

Das System funktioniert mittlerweile so gut, dass es Anfang dieses Jahres auch in Cebu, der zweitgrößten Stadt der Philippinen, gestartet wurde. Seit Ende Januar ist die Wunder-App zudem in der indischen Hauptstadt Neu Delhi und in Kuala Lumpur (Malaysia) freigeschaltet. In beiden Städten laufen massive Marketing-Kampagnen, bereits mehrere Hundert Fahrten wurden organisiert. Bis Mitte des Jahres sollen sechs weitere Großstädte in Schwellenländern folgen, sagt Froh.

Mit der App lassen sich gemeinsame Fahrten bis zu sieben Tage im Voraus planen. Sie macht dem Fahrer Vorschläge, wen er mitnehmen kann, sagt ihm, welche Route er dabei nehmen sollte, wieviel der oder die Mitfahrer für ihren jeweiligen Abschnitt zahlen müssen. Die Preise orientieren sich am öffentlichen Nahverkehr, selten sind es mehr als zwei Dollar. Organisiert werden pro Auto und Tag nur zwei Fahrten – damit die Fahrer den Service nicht zu ihrer Haupteinnahmequelle und den Taxis in Manila Konkurrenz machen. Die zahlenden Gäste kennen den Fahrpreis natürlich auch und erfahren, wer sie wann und wo zusteigen lässt.

In der HafenCity wird derweil daran gearbeitet, das System zu verfeinern. Die Wunder-Programmierer entwickeln etwa Lösungen für den Fall, dass eine Fahrt kurzfristig ausfällt. Die Zusteiger sollen wissen, wo der Wagen gerade ist, ob er im Stau steckt – und schließlich minutengenau über die Ankunftszeit informiert werden. Das alles ist für die Nutzer kostenlos. Noch. „Im Laufe dieses Jahres soll die App kostenpflichtig werden“, sagt Gunnar Froh. Gerade ist ein weiterer Investor bei Wunder eingestiegen. Das Unternehmen aus London ist der bislang größte Investor des Start-ups. Die Briten beteiligen sich gezielt an Unternehmen, die Megacitys als Geschäftsfeld begreifen.

Wunder erzielt Einnahmen vor allem mit Aufträgen aus der Autoindus­trie. „Im vergangenen Jahr haben wir mit mehreren deutschen Autoherstellern und Zulieferern zusammengearbeitet“, sagt Froh. Noch in diesem Jahr werden von Wunder entwickelte Software-Lösungen auch in Hamburg eingesetzt, ist er überzeugt. Was, wann und von wem muss aber innerhalb der dicken Wände im zweiten Stock des ehemaligen Hafenspeichers bleiben.

Die gut 40 Mitarbeiter kommen aus 22 Ländern

Hinter dessen Mauern arbeiten derzeit gut 40 junge Leute aus 22 Ländern, Teamsprache ist Englisch, im Büro steht der start-up-typische Tischkicker. Die Zahl der Mitspieler soll schnell und kräftig wachsen. „Im Sommer werden wir bereits 60 Leute sein“, sagt Gunnar Froh. An Selbstbewusstsein herrscht kein Mangel bei Wunder. „Wir sind das beste deutsche Autotech-Unternehmen und gehören zu den am besten finanzierten deutschen Start-ups“, sagt der Gründer, der zuvor von Hamburg aus das Europageschäft der Mitwohnplattform Airbnb aufgebaut hat, einen der Leuchttürme der sogenannten Sharing Economy. Wunder hat derzeit 15 Gesellschafter. Risikokapital-Fonds gehören ebenso dazu wie „deutsche Unternehmer-Familien“. Kein Geheimnis ist, dass Konstantin Sixt aus der Münchner Autovermieter-Dynastie einer der Teilhaber ist.

Geteilte Mobilität in der Stadt, weniger Autos, die von vielen Menschen gemeinsam und damit wirtschaftlicher und weniger umweltbelastend genutzt werden, das ist neben autonom fahrenden Autos und Elektroantrieb eines der großen Zukunftsthemen der Autobranche. Alle Hersteller, aber auch die Deutsche Bahn, arbeiten an Konzepten und Lösungen, sind an innovativen Mobilitätsdiensten beteiligt, kaufen sich in Autotech-Start-ups ein. Im Silicon Valley oder eben in der HafenCity.

Dahinter steht die Furcht der eta­blierten Konzerne, von neuen Anbietern wie Tesla, Uber oder Google abgehängt zu werden. Die Autobauer wissen, dass sie künftig weniger und andere Autos verkaufen werden, deshalb wandeln sie sich vom Hersteller zum Mobilitätsdienstleister.

In zehn Jahren, ist Gunnar Froh überzeugt, werden autonom fahrende Autos ein fester Teil des Straßenverkehrs in Hamburg sein. Firmen werden ganze Flotten fahrerloser E-Autos betreiben, und es wird Privatwagen geben, die nicht mehr ausschließlich vom Eigentümer genutzt werden.

„Die Besitzer werden sich am Morgen von ihrem autonomen Auto am Arbeitsplatz absetzen und abends wieder abholen lassen. Der Wagen steht in der Zwischenzeit aber nicht nutzlos herum, sondern kurvt selbstständig durch die Stadt, transportiert andere Menschen von A nach B und verdient damit Geld für den Besitzer“, lautet eine seiner Visionen. Am frühen Morgen und spät am Abend könnten die Wagen große Busse ersetzen, die dann nur eine Handvoll Passagiere, aber viele leere Sitze, transportieren würden. Der öffentliche Nahverkehr wird so vom starren zum bedarfsgerechten Angebot.

Gunnar Frohs Ziel: Die Software, die den Fuhrpark koordiniert, die Autos zum nächsten Fahrgast oder an die Ladesäule und fahrerlose Kleinbusse zur S-Bahnstation schickt, ist in den Wunder-Büros in der HafenCity geschrieben worden. Und was derzeit im chaotischen Berufsverkehr von Manila entsteht, lässt sich auch in die Hansestadt übertragen. „Mittelfristig wird es unser Produkt auch wieder in Hamburg geben“, sagt Gunnar Froh.