Hamburg. Um Angriffe im Einsatz abzuwehren, könnten Beamte Schutzkleidung tragen. Ihr Einsatz soll geprüft werden
Den 16. Mai 2016 wird Björn Grävell, Angestellter im Rettungsdienst der Feuerwehr, nicht vergessen. Sein Patient, ein junger Mann, soll wegen Suizidgefährdung in eine psychiatrische Einrichtung transportiert werden – zweimal hat er sich im Rettungswagen schon von seinem Sitz abgeschnallt, beim dritten Mal wird es Grävell zu bunt. Als er seinem Kollegen zuruft, er werde nun die Polizei alarmieren, steht der junge Mann auf, reißt sich die Kette mit dem Anhänger in Form eines Adlers vom Hals, klemmt ihn sich zwischen die Finger, stürmt auf Grävell zu und macht eine Stichbewegung in Richtung seines Halses. Der 36-Jährige kann im letzten Moment zurückweichen und den Angreifer am Boden fixieren. „So etwas habe ich in den zehn Jahren im Rettungsdienst noch nicht erlebt, und so etwas muss ich auch nie wieder erleben“, sagt Grävell.
So wie Grävell ergeht es vielen Feuerwehrbeamten und Angestellten im Rettungsdienst, praktisch überall in Deutschland. Immer häufiger werden sie bepöbelt, bespuckt, mit Waffen bedroht oder tätlich angegriffen. In Salzgitter wurden zu Silvester zwei Feuerwehrleute sogar krankenhausreif geschlagen. Rund 45 gewaltsame Angriffe verzeichnet die Hamburger Feuerwehr jedes Jahr, unter anderem mit Schuhen, Holzlatten, Messern und Fleischerhämmern. 2016 waren es bei weit mehr als 250.000 Einsatzfahrten 57 Strafanzeigen, wie aus einer Kleinen Senatsanfrage des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Dennis Gladiator hervorgeht – der höchste Stand seit mindestens fünf Jahren.
Die Kriminologin Janina Dressler geht indes davon aus, dass die offiziellen Zahlen nicht die Realität spiegeln und die Dunkelziffer noch viel höher ist. Für eine Studie der Universität Bonn befragte sie 487 Hamburger Feuerwehrleute, die ihr von 1500 strafrechtlich relevanten Übergriffen berichteten, von Tritten, Schubsereien, Anspucken, Schlägen. Vier von fünf Befragten gaben an: Sie hätten das Gefühl, die Gewalt im Dienst nehme zu.
Die Feuerwehr prüft nun für eine Gefährdungsbeurteilung unter anderem den Einsatz stich-, schuss- und schlagdämpfender Schutzwesten. „Es wird völlig ergebnisoffen geprüft“, sagte Feuerwehrsprecher Werner Nölken. Bisher hat die Feuerwehr Schutzwesten allerdings kategorisch abgelehnt und auf die Selbstverteidigungs- und Deeskalationskurse während der Aus- und Fortbildung verwiesen. Die Prüfung hänge nicht mit der 2016 gestiegenen Zahl von Angriffen auf Feuerwehrleute zusammen, betonte Nölken. Es gehe „ganz grundsätzlich darum, abzuklären, ob Schutzwesten sinnvoll sind oder eben nicht“.
Die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren (AGBF) lehnt eine Aufrüstung mit Schutzwesten indes ab. Dadurch könne „eine falsche Sicherheit suggeriert“, mithin die „Gefahr durch Aggressionssignale“ noch gesteigert werden. Auch feuerwehrintern stößt die Ausrüstung auf Skepsis. So wird befürchtet, dass die Montur Rettungs- und Löscheinsätze behindern könnte. Zudem seien Feuerwehrleute in den vergangenen 15 Jahren in Hamburg nicht einmal mit Stich- oder Schusswaffen angegriffen worden.
Daniel Dahlke, Chef des Berufsverbands der Feuerwehr in Hamburg, begrüßt hingegen die neuen Pläne. „Wir brauchen Schutzwesten, die uns in unserer Arbeit nicht behindern, nicht als solche auf Anhieb zu erkennen sind, aber im Ernstfall schützen.“ Der Berufsverband favorisiert ein eng anliegendes, hochflexibles T-Shirt, in das schützende Gel-Pads eingelegt werden können. „Wenn die Feuerwehr am Ende der Prüfung Schutzwesten für sinnvoll hält, sollte die Stadt sie auch bereitstellen“, sagt CDU-Mann Gladiator.
Dass Hamburgs Feuerwehrleute gewaltsame Übergriffe nur selten ihrer Dienststelle melden, hat nach Ansicht von Dressler auch mit den hohen bürokratischen Hürden zu tun. Die Feuerwehr will deshalb das Meldeverfahren für „Vorfälle von Gewalt im Einsatzdienst“ künftig vereinfachen. Zudem, so Dressler, seien viele Feuerwehrleute frustriert, weil die Staatsanwaltschaft ohnehin die meisten Ermittlungsverfahren gegen die Gewalttäter einstelle. Dabei handele es sich um einen „indiskutablen Umgang der Staatsanwaltschaft mit den angezeigten Vorfällen“, sagt Daniel Dahlke: „Hier muss ein Umdenken erfolgen.“