Hamburg. Semyon Bychkov dirigierte das erste der beiden Konzerte mit den Wienern. Der Bariton hatte so seine Mühe in der Elbphilharmonie.
Sechs Uraufführungen zählt das Eröffnungsfestival der Elbphilharmonie. Darin liegt natürlich eine Ansage für die Zukunft. Die Reihe „Pro Arte“ hat mit dem Konzert der Wiener Philharmoniker unter Semyon Bychkov das ihr Gemäße zu dieser Richtung beigetragen und ein Werk von Detlev Glanert aufs Programm gesetzt. Wobei, so ganz von Glanert ist es nicht, und eine Uraufführung war’s auch nicht: Glanert, 1960 in Hamburg geboren, hat die „Vier Ernsten Gesänge“ von Brahms für Bariton und Orchester gesetzt und mit (selbst geschriebenen) „Präludien“ versehen, und zwar schon im Jahr 2005.
Melancholisch-süffige Musik
Dabei herausgekommen ist eine knappe halbe Stunde melancholisch-süffiger Musik. Brahms war zwar Gefühlsäußerungen persönlicher Art abhold, doch in seinen Gesängen setzte er sich letzten Fragen aus. Er wählte Bibelstellen zum Thema Tod aus, die allerdings keinen ausdrücklich religiösen Charakter haben. So war er bereits bei seinem „Deutschen Requiem“ verfahren. In Glanerts Bearbeitung wurde erst deutlich, wie nahe die „Vier Ernsten Gesänge“, ursprünglich für Bass und Klavier geschrieben, dem Requiem sind. Wie wehmütig schmeichelten die Melodien der Holzbläser, wie tiefschwarz grummelte das Kontrafagott! Ein Hauch vierte Sinfonie umwehte das Ganze. Und es war natürlich raffinierteste Absicht, dass die Übergänge zwischen Brahms und Glanerts Präludien fast nicht auszumachen waren.
Das Orchester wirkte wie ein einziger Riesenorganismus
Klar, dass die Wiener Philharmoniker noch die kleinste Fuge zwischen den Teilen mit ihrer einzigartigen Klangkultur verschlossen. Auf lockere Weise präsent wirkten die Musiker unter Bychkovs Dirigat. Perfekt nicht im Sinne einer Abwesenheit von Fehlern, denn die forderte die Live-Situation auch von diesem legendenumwobenen Klangkörper, sondern perfekt, weil das Orchester wie ein einziger Riesenorganismus atmete, im musikalischen Duktus wie selbstverständlich eins mit Brahms’ Tonsprache, den doch die Norddeutschen so gern als einen der Ihren reklamieren. Vielleicht muss man die Wiener gehört haben, um zu merken, wie relativ und wie provinziell solche Vereinnahmungen sind.
In der Höhe manchmal Mühe
Ihren Solisten deckten die Musiker bei allem Schwung bisweilen gut gelaunt zu. An der unausgewogenen Balance hatte die Akustik wohl eher keinen Anteil. Denn in Block E, frontal vor der Bühne, kommen Singstimmen nach bisheriger Erfahrung exzellent an. Der Bariton Johan Reuter sang zwar in der Mittellage mit warmem Timbre, hatte in der Höhe aber manchmal Mühe und war textlich schwer zu verstehen. Insgesamt war dieser Brahms/Glanert eher Orchestermusik mit obligatem Sänger.
Und wo blieb das Zeitgenössische? Nun – nirgends. Hin und wieder klang in den Präludien mal die klassische Moderne an mit Klangeffekten, die seit Jahrzehnten zum Repertoire gehören, oder es wagte sich mal ein Akkord aus der Tonalität heraus. Ansonsten überwog schönster, dunkelster Brahms-Schmelz, überzuckert gelegentlich mit etwas Filmmusik-Flair. Soviel für diesen Abend zum Thema Neue Musik in der Elbphilharmonie.
Ausdruck von Seelenzuständen
Aber da war ja noch Mahler. Nun ist die Erste nicht die Sechste mit den berühmtesten (und natürlich lautesten) Hammerschlägen der Musikgeschichte. Aber auch bei Mahlers sinfonischem Erstling ließen Bychkov und die Seinen alle Zurückhaltung fallen, als wollten sie die viel diskutierte Saalakustik mal so richtig austesten. Block E, wie gesagt. Es war nah dran, es war ordentlich laut, das Piccolo pfiff schon mal in den Ohren. Aber muss das bei Mahler nicht so sein? Nach diesem Abend kann die Antwort nur lauten: ja, muss es. Lautstärke ist bei Mahler nämlich kein Selbstzweck. Sie ist Ausdruck von Seelenzuständen.
Wenn dieser Abend groß war, dann deshalb, weil die Künstler Mahlers zerklüftete Musik in alle Richtungen ausloteten. Nichts als zitternde Luft erklang zu Beginn, fast unhörbar leise und unhörbar hoch in den immerhin 16 ersten Geigen. Erst ganz allmählich schien sich der Komponist seines Vorhabens zu erinnern und Motive aus ebendieser Luft zu greifen: einen Vogelruf der Klarinette hier, ein fernes Gewittergrummeln der Pauke da, und dann band er es zusammen in die fast unbekümmerte Melodie aus den „Liedern eines fahrenden Gesellen“. Um den Satz dann fortissimo und ungebremst in seinen Schluss- und Höhepunkt zu fahren.
Ein erster Szenenapplaus
So dirigierte es jedenfalls Bychkov – und erntete einen ersten Szenenapplaus. Klatschen zwischen den Sätzen, und das in Hamburgs vornehmster Reihe, den „Internationalen Orchestern“ von „Pro Arte“! Es zischte leise und tadelnd im Publikum. Aber beweist dieser spontane Beifall denn nicht viel mehr als der gute alte konventionelle Schlussapplaus, dass die Musik ihr Publikum wirklich erreicht? In der Oper ist das doch auch erlaubt.
Bemerkenswert aufmerksam war dieses Publikum übrigens. In den gleichsam nach innen gewendeten Momenten, in denen einem Mahlers Musik fast den Boden unter den Füßen wegzog mit ihrer Trostlosigkeit, herrschte gespannte Stille.
Mahler wäre nicht Mahler, würde er nicht binnen Takten die Szenerie wechseln. Wie sich das Orchester zu den derben Walzerklängen, slawischen Volkstänzen und Klezmerzitaten in die Kurve legte, das hatte etwas hinreißend Musikantisches. Es klang wie eine Verneigung vor der k.u.k.-Geschichte.
Und als Rausschmeißer zündeten sie noch Johann Strauß’ „Tritsch-Tratsch-Polka“. Tradition verpflichtet.
Radio-Tipp Um „Erste Eindrücke von der Elbphilharmonie“ geht es heute Abend um
20 Uhr auch auf NDR 90,3 beim „Treffpunkt Hamburg/Kultur“