Hamburg. Als der Theologe die Reformation nach Hamburg brachte, herrschten hier Zustände, die an Sodom und Gomorrha erinnern. Ein Sittengemälde.

Wie kommt nur der Schwan aufs Bild? Soll das Luther-Porträt, das in der Hauptkirche St. Petri hängt, etwa mit einem Alsterschwan ein bisschen Hamburger Lokalkolorit anklingen lassen? Das wäre ziemlich weit hergeholt, denn in Wahrheit kann Luther nie einem Alsterschwan begegnet sein, da er sich niemals in Hamburg aufgehalten hat. In die Hansestadt schickte er dafür Johannes Bugenhagen, einen seiner engsten Mitarbeiter. Und dieser war es auch, auf den die Darstellung zurückgeht. Sie zeigt Luther nicht nur mit aufgeschlagener Bibel, sondern eben auch mit einem Schwan.

Bugenhafen war Luthers Seelsorger – er traute ihn und Katharina von Bora

Johannes Bugenhagen war Luthers Seelsorger, er hatte ihn und Katharina von Bora 1525 getraut, und 1546 hielt er auch die Trauerpredigt auf ihn. Darin zitierte er den böhmischen Reformator Jan Hus, der auf dem Konzil von Konstanz 1415 hingerichtet worden war. Hus, dessen Name auf Tschechisch Gans bedeutet, soll noch auf dem Scheiterhaufen gesagt haben: „Sie werden jetzt eine Gans braten, aber in 100 Jahren werden sie einen Schwan singen hören.“ Seit Bugenhagens Trauerpredigt wurde Luther besonders in Norddeutschland gern in Verbindung mit einem Schwan dargestellt.

Die Bugenhagenkirche Rönneburg, ein Bauernhaus aus dem 19. Jahrhundert
Die Bugenhagenkirche Rönneburg, ein Bauernhaus aus dem 19. Jahrhundert © Kirchenkreis Hamburg-Ost | Kirchenkreis Hamburg-Ost

1524 war Bugenhagen drauf und dran, seinen Lebensmittelpunkt nach Hamburg zu verlegen. Eigentlich schien alles klar zu sein, die Hamburger Bürger hatten den Norddeutschen als Prediger an die Nikolaikirche gewählt, doch sein Amt trat er trotzdem nicht an. Die Ablehnung durch die Altgläubigen war so groß, dass der Rat die Personalie vorsichtshalber nicht bestätigen mochte. Also kehrte der aus dem pommerschen Wollin stammende Theologe nach Wittenberg zurück, wo er schon seit 1523 als Stadtpfarrer amtierte. In der „Hauptstadt der Reformation“ hatte sich der Priester und studierte Theologe schnell einen Namen gemacht.

Bugenhagen macht in Wittenberg akademische Karriere

Schon früh beschäftigte sich Bugenhagen, der die Schriften von Erasmus und anderer Humanisten intensiv studiert hatte, mit der Bibelexegese. Da ihn die Schriften von Luther anregten und überzeugten, setzte er seine Studien an der Wittenberger Universität fort, hielt dort aber auch selbst bald Vorlesungen. Vor allem Philipp Melanchthon, in dessen Haus er Unterkunft fand, war angetan von den scharfsinnigen Gedanken des Theologen, der nun in Wittenberg eine akademische Karriere macht: 1533 wurde er Doktor der Theologie und übernahm drei Jahre später eine Professur neben seiner Tätigkeit als Stadtpfarrer. Auch wenn es mit seiner Anstellung an St. Nikolai nichts geworden war, so verlor Bugenhagen die Hamburger Verhältnisse nie aus dem Blick. Er nahm im Gegenteil entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Reformation in der Hansestadt.

Doch schauen wir noch einmal zurück auf die Zeit unmittelbar vor Beginn der Reformation. Anfang des 16. Jahrhunderts lebten etwa 14.000 Menschen in Hamburg, das damit nur etwa halb so groß war wie Lübeck. Zu ihnen zählten allein 250 Geistliche, hinzu kamen die Franziskaner vom Maria-Magdalenen-Kloster, die Dominikaner von St. Johannis, die Schwestern des Beginenkonvents und die Zisterzienserinnen aus Harvestehude. Es gab nicht nur den Dom und die Hauptkirchen St. Petri, St. Jakobi, St. Nikolai und St. Katharinen, sondern insgesamt zwölf Gotteshäuser in Hamburg, jeder Einwohner hätte darin Platz gefunden. Und die Menschen kamen tatsächlich, sie feierten die Eucharistie, ließen Messen für die Verstorbenen lesen und erwarben Ablässe, um dereinst die Qualen im Fegefeuer zu verkürzen. Der Tod war stets gegenwärtig in einer Zeit, in der die Kindersterblichkeit hoch war und in der viele Frauen im Kindbett starben, aber auch Hunger und Seuchen zum entbehrungsreichen Alltag gehörten.

Vor dem Fegefeuer hatten die Menschen große Angst

Mehr noch als vor dem eigenen Tod fürchteten sich die Menschen vor dem, was danach kommen würde. Was das Fegefeuer bedeutete und welche Qualen den Sünder in der Hölle erwarteten, hatten die Menschen vor Augen, wenn sie die Bilder auf manchen Altären betrachteten, die eher Angst machten als Trost zu spenden.

Lübeck und Hamburg auf Darstellungen aus dem 16. Jahrhundert. Bugenhafen war in beiden Städten für die Durchsetzung der Reformation zuständig
Lübeck und Hamburg auf Darstellungen aus dem 16. Jahrhundert. Bugenhafen war in beiden Städten für die Durchsetzung der Reformation zuständig © Getty Images/AbleStock.com

Aber die Priester und Mönche, von denen es in Hamburg wahrlich genug gab, kümmerten sich oft eher nachlässig um das Seelenheil der ihnen anvertrauten Menschen und waren nicht selten auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Merkwürdig, dass ausgerechnet viele geistliche Herren offenbar kaum Angst vor Tod und Teufel zu haben schienen, wunderten sich nicht nur einfache Handwerker, sondern auch reiche Ratsherren. Statt ihren seelsorgerlichen Pflichten nachzukommen, liebten sie das Lotterleben, veruntreuten Gelder und hielten Konkubinen aus, die in kostbaren Kleidern durch die Stadt stolzierten, als seien sie feine Damen,

Im Winter 1483 kam es zu Unruhen

Nein, die Stimmung war nicht gut in Hamburg, zumal sich auch die reichen Kaufleute, die niemals Not litten, manchmal unchristlich und verantwortungslos benahmen. Und wenn das Maß voll war, trieb es die Menschen auf die Gassen. Wie im Winter 1483, als mit Korn voll beladene Schiffe den Hafen verließen, um die Ware andernorts zu Wucherpreisen zu verkaufen, obwohl in der Stadt bitterer Hunger herrschte. Da kam es zu Tumulten und zu Unruhen. Und es blieb nicht bei wütenden Rufen gegen den Wucher der Pfeffersäcke, bald wurden auch Steine geworfen, gingen Fenster und Türen zu Bruch, und den Herren im Rat schwante nun, dass sie es diesmal übertrieben hatten. Anno 1483 führte es dazu, dass ein neues Gesetz in Kraft treten musste. 70 Paragrafen umfasste der Rezess, der Bürgern und Kirchspielen mehr Rechte einräumte. Nebenbei wurde auch der Wucher mit Korn verboten.

Warum waren Pfaffen von Steuern befreit?

Aber es war eben nicht nur der Mangel am täglichen Brot, der die Elbfischer und Handwerker, die Höker und Kramer umtrieb, sondern auch die Sorge um das Jenseits. Da waren sie sich mit den Wohlhabenden, den Advokaten, Kaufleuten und Ratsherren, einig. Sie alle fühlten sie von den Geistlichen ihrer Stadt mehr oder minder alleingelassen.

Von den meisten jedenfalls, denn es gab auch Ausnahmen. Wie zum Beispiel den Domdekan Albert Krantz, der klug und gebildet war, fromm und mitfühlend. Was viele seiner Kollegen im geistlichen Stand trieben, ging ihm gegen den Strich. Er schimpfte und ­kritisierte, hielt Strafpredigten und ordnete an, dass sich die Priester, die doch ewige Keuschheit gelobt hatten, sich von ihren Konkubinen trennen sollten. Erfolg hatte er aber kaum, so blieb alles beim Alten.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts änderten sich die Zeiten

Und doch änderten sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Zeiten. Die Bürger nahmen nicht mehr alles klaglos hin und stellten immer häufiger und immer lauter Fragen. Warum waren die Pfaffen von den Steuern befreit? Wie stand es um den Gemeinsinn der geistlichen Herren, die doch vom Schutz innerhalb der städtischen Mauern profitierten? Und wieso durften sich die Diener Gottes so offenkundig gottlos verhalten, ohne dass ihnen Einhalt geboten wurde? War das alles so von Gott gewollt? Oder hatten sich die Vertreter der Kirche in Wahrheit recht weit von Gottes Geboten entfernt? Es war aber vor allem eine Erfindung, eine technische Innovation, die Anfang des 16. Jahrhunderts einen tief greifenden Wandel der Gesellschaft nach sich zog. Johannes Gutenberg, jener Mann, der um 1450 mit der Verwendung von beweglichen Lettern den Buchdruck revolutioniert hatte, war zwar längst tot, aber seine Erfindung hatte enorme Folgen. Auf einmal wurde es möglich, Texte, Flugschriften, ja ganze Bücher massenhaft zu drucken und zu verbreiten. Und so erfuhr man auch in Hamburg, dass in Wittenberg der Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luther im Herbst 1517 insgesamt 95 Thesen verfasst hatte, in denen er harte Kritik an den Missständen in der Kirche übte. Vor allem am Ablass, jener damals weit verbreiteten und vom Klerus mit viel Eifer praktizierten Unsitte, nach der man sich durch den Erwerb eines entsprechenden Schriftstücks von den eigenen Sünden freikaufen konnte. Was früher allenfalls einige wenige Gebildete vielleicht bei einem guten Glas Wein hinter Klostermauern diskutiert hätten, wurde nun durch den Buchdruck allgemein bekannt. War doch in Hamburg ein gewisser Simon Korver aufgetaucht, der den Buchdruck schon in den Niederlanden praktiziert hatte und sein neumodisches Gewerbe jetzt in Hamburg betrieb. 1522 verließen erstmals Martin Luthers Schriften seine Druckerpresse, und zwar nicht etwa in Latein, sondern in niederdeutscher Sprache, die jeder hier verstehen konnte.

Natürlich waren im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts die meisten Hamburger noch Analphabeten, aber auch das gemeine Volk erfuhr von diesem Luther aus der kursächsischen Residenz Wittenberg, die ein paar Tagesmärsche weiter oben an der Elbe lag. Dafür war ausgerechnet ein Mönch verantwortlich, ein Franziskaner, der Anno 1523 aus Rostock gekommen war und seither in der Klosterkirche Maria Magdalenen predigte. Dieser Stephan Kempe nahm kein Blatt vor den Mund und konnte sich daher nicht über einen Mangel an Zuhörern beklagen. Wenn er die Pfaffen und Mönche in Hamburg kritisierte, dann tat er das stets mit Argumenten aus der Bibel. Dort stehe nichts vom Ablass, allein die Vorstellung, dass man sich für Geld von seinen Sünden freikaufen könne, sei eine Irrlehre. Und dann berief sich Kempe direkt auf Luther: „Sola scriptura“, allein die Heilige Schrift, solle der Maßstab des Glaubens sein. Dort finde sich kein Wort vom Ablass, sondern von der Gnade Christi, derer man nicht durch Almosen oder Kompensationszahlungen teilhaftig werden könne, sondern allein durch den Glauben. Die Armen fanden das einleuchtend, und auch manchem reichen Kaufmann wurde langsam klar, dass er das viele Geld für die Ablässe nicht gut für sein Seelenheil angelegt, sondern in Wahrheit wohl eher zum Fenster hinausgeworfen hatte.

In der Vesper beteten die Priester in Latein

Arme und Reiche kamen zu Kempes Predigten und waren dankbar, dass er zu ihnen über Gott und die Welt sprach, und zwar in deutscher, genauer gesagt in niederdeutscher Sprache. Predigten waren damals keine Selbstverständlichkeit, in der Vesper beteten die Priester in Latein, in der Messe gab es meistens keine geistliche Ansprache. Und wenn ein Priester doch einmal das Wort an die Gemeinde richtete, sprach er oft an der Lebenswirklichkeit seiner Zuhörer vorbei. Das war bei Kempe ganz anders: Indem er den Gottesdienstbesuchern den Glauben erklärte, gab er ihnen zugleich Lebenshilfe. Und bald war Kempe nicht mehr allein, denn es kamen auch andere Geistliche, die von Hamburger Kanzeln die neue Lehre predigten.

Da entwickelte sich in der Stadt ein heftiger Konflikt. Stein des Anstoßes war ein Mann, der sich eigentlich über jede Kritik erhaben wähnte: Heinrich Banzkow, der seit 1499 als Domscholasticus nach dem Propst und dem Dekan die Nummer drei unter den einflussreichsten Domherren war, verfügte über glänzende Beziehungen bis in die höchsten Kreise. Seine Pfründen waren nicht etwa auf Hamburg begrenzt, er war zum Beispiel auch Domherr und Propst in Schwerin, wo er als Administrator den noch unmündigen Bischof vertrat. Er kümmerte sich in päpstlichem Auftrag in der Bremer Erzdiözese um den Ablass, stand mit dem Erzbischof auf gutem Fuß und unterhielt enge Kontakte zur römischen Kurie.

Die ehemalige Bugenhagenkirche in Barmbek, fertiggestellt 1929
Die ehemalige Bugenhagenkirche in Barmbek, fertiggestellt 1929 © Roland Magunia | Roland Magunia

Die Lehrer an der Nikolaischule waren billig und ungebildet

Weil er so viele einträgliche Ämter hatte, blieb dem stinkreichen Kleriker kaum Zeit, um sich seiner eigentlichen Aufgabe als Domscholas­ticus zu widmen, nämlich der Aufsicht über das Schulwesen. Dabei ging es an der Nikolaischule drunter und drüber: Die von Banzkow angestellten Lehrer mochten zwar für ihn billig zu haben sein, dafür waren sie aber auch unfähig, ungebildet und hatten keine Ahnung vom eigentlichen Lehrstoff. Als das Schulgeld trotzdem erhöht wurde, platzte den Bürgern der Kragen.

Vor dem Rat führten sie Klage gegen den Domscholasten. Der verstand die Welt nicht mehr, versuchte alle Vorwürfe zu entkräften und den Spieß umzudrehen, konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass er am Ende die Aufsicht über die Nikolaischule und das Recht zu weiteren Schulgründungen verlor. Dieser Schulstreit war ein Etappensieg auf dem Weg zur Reformation, die in der Hansestadt immer mehr Anhänger fand. Das war zwar ein langsamer, aber offenbar unaufhaltsamer Prozess, dem die Altgläubigen auf Dauer nicht viel entgegensetzen konnten. So bestand eine Hamburger Besonderheit darin, dass die Stadt im Prinzip schon vor der Einführung der Reformation ziemlich evangelisch war. Wer im Jahr 1527 lutherische Predigten hören wollte, hatte eine erstaunlich große Auswahl: Auf der Kanzel von St. Nikolai predigte Johannes Zegenhagen die neue Lehre, in St. Jacobi Johann Fritz und an St. Katharinen der bereits bestens bekannte Stephan Kempe, der die Mönchskutte inzwischen abgelegt hatte. Damit wurde in drei der vier Hamburger Hauptkirchen bereits evangelisch gepredigt.

Aber verlassen wir einmal Hamburg und schauen wir auf die großen Aus­einandersetzungen jener Zeit: 1519 hatte Luther seine Position beim Streitgespräch auf der Leipziger Pleißenburg überzeugend vertreten. Dass Papst Leo X. eine Bannbulle gegen ihn androhte, brachte den Reformator nicht aus der Fassung. Im Gegenteil, 1520 verbrannte er die Bulle öffentlich in Wittenberg. Und auch 1521, als er vor den Reichstag zu Worms geladen war, verweigerte Luther den Widerruf seiner Lehre. Eigentlich war sein Leben jetzt nicht mehr viel wert, doch hatte er in dem sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen einen mächtigen Beschützer. Auf der Rückreise von Worms ließ der Fürst einen Überfall vortäuschen und nahm Luther erst einmal aus der Schusslinie, indem er ihn unter einer falschen Identität auf der Wartburg unterbrachte. Dort nutzte der Reformator die Zeit, indem er das Neue Testament aus dem griechischen Original in ein Deutsch übersetzte, das so lebendig, kraftvoll und bildhaft war, dass jedermann es verstand.

Der Kelch beim Abendmahl wurde plötzlich allen gereicht

Auch in Hamburg fand das sogenannte „Septembertestament“, das alle neutestamentlichen Bücher enthält und 1522 erstmals erschien, schon bald große Verbreitung. Die gebildeten Hanseaten hielten das Druckwerk während der Gottesdienste sogar manchmal auf den Knien, um zu überprüfen, ob die lutherischen Pastoren sich tatsächlich wortgenau an die Schrift hielten.

Aber auch die Analphabeten kamen nun auf ihre Kosten, denn die Pastoren predigten nicht nur in der niederdeutschen und damit allgemein verständlichen Sprache, sie gaben den Menschen mit der Anleitung zum richtigen Glauben auch echte Lebenshilfe.

Was Luther alles bewirkte, war stets in Hamburg ein Thema, so zum Beispiel die Einführung des Abendmahls „in beiderlei Gestalt“. Während bei der katholischen Eucharistie nur der Priester den Wein trank – übrigens eine Einschränkung, von der in der Bibel nirgends die Rede ist –, wurde der Kelch im lutherischen Gottesdienst nun allen Abendmals­teilnehmern gereicht. Kleriker wie Heinrich Banzkow hielten sich zwar keineswegs an den Zölibat, zu dem sie sich bei der Priesterweihe verpflichtet hatten, sondern zeugten mit ihren Geliebten oder Haushälterinnen Kinder, die auch im Testament bedacht wurden. Als sie aber erfuhren, dass der Mönch Martin Luther seine Kutte abgelegt und 1525 ganz offiziell die ehemalige Nonne Katharina von Bora geheiratet hatte, waren sie trotzdem empört. Vor allem im Johanniskloster versammelten sich die Altgläubigen zum Widerstand gegen die Reformation.

Aber bei der Mehrheit der Hamburger Bürger hatten sie ihre Glaubwürdigkeit längst eingebüßt. Und dieser Tatsache musste auch der Rat Rechnung tragen, der sehr darum bemüht war, Unruhen zu verhindern. Schließlich ging es um Argumente, um Thesen und Gegenthesen und darum, wer sie am überzeugendsten zu vertreten vermochte. Im Mai 1527 und im April 1528 fanden im Hamburger Rathaus Disputationen statt, bei denen um das richtige Verständnis von Sündenvergebung, um Ablass, um das Abendmahl und die Autorität der Kirche gerungen wurde. Da vorab festgelegt worden war, dass die Heilige Schrift das alleinige Kriterium sein sollte, hatten die Altgläubigen von vornherein schlechte Karten. So erkannte der Rat schließlich den Sieg der Lutheraner an.

Die altgläubigen Geistlichen mussten die Stadt verlassen. Taten sie das nicht freiwillig, wurden sie ausgewiesen. Die Klöster wurden aufgelöst, und auch das Armenwesen, das bisher durch Almosen finanziert wurde, musste neu geregelt werden. Nun sammelte man die Spenden für die Bedürftigen in sogenannten Gotteskästen, um deren Verwaltung sich Bürger kümmerten. Diese bildeten ein Kollegium, das gemeinsam mit dem Rat über alle Kirchenangelegenheiten verhandelte.

Das alles und noch viel mehr trug die Handschrift eines Mannes, der noch vor Kurzem in Hamburg nicht wohlgelitten war: Ausgerechnet Johannes Bugenhagen, dessen Amtsantritt als Pastor von St. Nikolai 1524 der Rat noch verhindert hatte, war vier Jahre später in Hamburg hochwillkommen. Nun sollte er die Durchführung der Reformation in die Hand nehmen.

Obwohl er nur etwa ein halbes Jahr in der Stadt blieb, machte er buchstäblich Nägel mit Köpfen: Bugenhagen verfasste eine neue Kirchenordnung, er stellte das Armenwesen auf eine völlig neue Grundlage, er regelte das Schulwesen neu und gründete die Gelehrtenschule des Johanneums. Vor allem aber sorgten seine genau durchdachten Reformprojekte dafür, dass das Verhältnis von Bürger und Bürgerschaft, Rat und Kirche auf ein völlig neues Fundament gestellt wurde.

Offiziell begann diese neue Zeit am 15. Mai 1529, jenem Tag, an dem Rat und Bürgerschaft Burgenhagens Kirchenordnung annahmen und damit die Reformation in Hamburg besiegelten. Lob ernteten die Hamburger von beinahe höchster Stelle – Philipp Melanchthon, Luthers engster Ratgeber und Mitarbeiter, schrieb 1537 rückblickend: „In diesen bewegten Zeiten war in jener Gegend keine Stadt ruhiger, weil die Besonnenheit ihrer Bürger einzigartig ist“

Die Frömmigkeit schwindet, der Gemeinsinn aber bleibt

War damit aller Glaubensstreit in Hamburg beendet? Kehrte zwischen Elbe und Alster Harmonie ein? Die Wahrheit sah leider anders aus. Trotz aller Fortschritte wurde auch im evangelischen Hamburg oft recht unchristlich gestritten. Da löste zum Beispiel der Superintendent Johannes Aepinus einen handfesten Streit über die Frage aus, wie die Höllenfahrt Christi zu verstehen sei. In der Bibel findet sich dazu keine klare Antwort, Luther selbst hielt das Thema für absolut nebensächlich, trotzdem erhitzte die Kontroverse die Gemüter in Hamburg. Schließlich mussten die Gegner des Superintendenten die Stadt verlassen.

Aber kritische Selbstreflexion gehörte ohnehin nicht zu den Tugenden der orthodoxen Lutheraner, die ganz Kinder ihrer Zeit waren und daher auch von konfessioneller Toleranz absolut nichts hielten. So durfte in Hamburg ausschließlich lutherisch geglaubt und gebetet werden, Katholiken, aber auch Reformierten und gar Juden war es verboten, Gottesdienste zu feiern. Das blieb noch Jahrhunderte so und änderte sich erst in Lauf des 19. Jahrhunderts.

Aber natürlich muss man historische Entwicklungen aus ihrer Zeit heraus beurteilen. Und so bleibt festzustellen, dass die Reformation vor knapp 500 Jahren in Hamburg nicht nur den Glauben radikal verändert hat, sondern auch die Organisation von Kirchen, politischer Verwaltung und sozialer Wohlfahrt. Und das genossenschaftliche Bewusstsein, das damals für das städtische Bürgertum Bedeutung erlangte, ist bis heute in der Hamburger Identität zu spüren: sicher nicht mehr primär in einer allgemeinen Frömmigkeit, wohl aber im Gemeinsinn, der gelebten Verantwortung für das Gemeinwesen und auch im Stolz der Bürger, die es gewohnt sind, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.

Johannes Bugenhagen hatte sich um die Durchsetzung der Reformation nicht nur in Hamburg, sondern auch in Lübeck und anderen Städten in Norddeutschland und sogar in Dänemark verdient gemacht. Er blieb aber Stadtpfarrer und Theologieprofessor in Wittenberg, wo ihn der sächsische Kurfürst zum Generalsuperintendenten ernannte. Erst mit 72 Jahren gab er sein Amt als Prediger auf, kurz darauf starb er am 20. April 1558. Beigesetzt wurde er dort, wo er zeitlebens gepredigt hatte: in der Stadtkirche zu Wittenberg.

Gleich vier Kirchen (in Barmbek, Bergedorf, Groß Flottbek und in Rönneburg) wurden in der Hansestadt nach Bugenhagen benannt und erinnern so an jenen Mann, der zu Hamburgs Reformator wurde.