Hamburg. In Hamburg versuchen jetzt vier Kripobeamte, rätselhafte „Cold Cases“ doch noch aufzuklären. Die Zeit lege auch Spuren frei.

Als sie im Jahr 1999 spurlos verschwand, löste ihr Fall die größte Suchaktion in Hamburg seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Doch bis heute ist das Schicksal der damals zehnjährigen Hilal trotz aufwendigster Ermittlungen ungeklärt. Das unbekannte Schicksal von Menschen, die wie vom Erdboden verschluckt erscheinen, und Morde, die über Jahre nicht aufgeklärt werden konnten: Solche Ermittlungsverfahren werden „Cold Cases“ genannt. Diese Fälle werden nun von einer neuen Spezialeinheit in Hamburg intensiv aufgegriffen, die vor drei Monaten ihren Dienst aufgenommen hat. „Tote haben bei uns eine Lobby“, betont Timo Zill, Sprecher der Hamburger Polizei.

"Die Zeit verdeckt nicht nur Spuren, sie legt auch Spuren frei."

„Ziel der aus vier Kripobeamten bestehenden Ermittlungsgruppe ist es, die offenen Fälle erneut kriminalistisch zu analysieren.“ Gerade die Hinterbliebenen bei Tötungsdelikten und ungeklärten Vermisstenfällen könnten nie mit dem Fall abschließen, solange dieser nicht geklärt sei. „Das wissen wir“, sagt Polizeisprecher Zill. „Wir sehen unsere Verantwortung. Und die Zeit verdeckt nicht nur Spuren, sie legt auch Spuren frei. Und wir prüfen: Gibt es irgendeine Spur, die wir damals noch nicht kannten?“ Zurzeit laufe eine sogenannte „Priorisierungsphase“, um zu prüfen, welche Fälle am Erfolg versprechendsten seien. „Wir haben drei Ermittlungsverfahren in konkreter Betrachtung“, so Zill. Einer von ihnen sei bereits bei der Staatsanwaltschaft vorgestellt worden mit der Frage, ob dort das Ermittlungsverfahren wieder aufgenommen werden könne.

Die vier der Cold-Case-Einheit zugehörigen Kripobeamten sind nicht in das Tagesgeschäft eingebunden, können sich vollständig auf die ungelösten Altfälle konzentrieren. Dabei wird „mit dem Wissen von heute noch mal auf eine Tat von vor 30 Jahren geguckt“, so der Polizeisprecher. Schließlich hätten sich die Ermittlungsmethoden weiterentwickelt, unter anderem mit DNA-Analyse, in der Computertechnik, auch die mikroskopische Technik ist deutlich verbessert, mit 3-D-Scannern könnten alte Tatorte neu vermessen werden. Zudem gibt es spezielle forensische Leuchten, mit denen Spuren sichtbar gemacht werden können. Auch die erneute Befragung von Zeugen sei mitunter vielversprechend, weil sich unter Umständen früher bestehende feste Bindungen gelöst haben und ein Zeuge heute eher bereit ist, gegen einen Verdächtigen auszusagen.

Rechtsmediziner werden einbezogen

Auch das Hamburger Institut für Rechtsmedizin hat seine eigenen Cold Cases – und darüber hinaus großes Interesse daran, in die Betrachtung der Fälle der Polizei einbezogen zu werden. „Es ist wichtig, dass zusätzlich zu den Kriminalisten auch Rechtsmediziner den Fall erneut prüfen“, sagt der Direktor des Instituts, Klaus Püschel. Wichtig seien auch die morphologischen und rekonstruktiven Aspekte. Auch Fälle, die formal verjährt sind, sollten wieder aufgenommen werden, fordert Püschel, „um den Angehörigen Gewissheit zu geben. Es geht nicht nur darum, Täter zu finden, sondern Gerechtigkeit und Gewissheit für die Hinterbliebenen zu schaffen“, sagt der Rechtsmediziner, der sich als „Anwalt der Opfer“ versteht. Er habe gerade erlebt, dass in einem Fall die Ermittlungen ruhen, weil der Verdächtige tot ist. „Nicht berücksichtigt wurde, dass es mögliche Mittäter gibt. Und dass es wichtig ist, für die Hinterbliebenen den inneren Frieden zu schaffen.“

Die Wasserleiche konnte nach 35 Jahren identifiziert werden

Püschel nennt den Fall einer Vermissten, der nach fast drei Jahrzehnten aufgeklärt wurde. Die 41 Jahre alte Birgit M. war 1989 aus ihrer Wohnung verschwunden. Eine Cold-Case-Ermittlungsgruppe in Niedersachsen arbeitete seit 2015 den Fall ganz neu auf. Dazu gehörte eine Spur, die zu einem Bekannten der Frau führte, der schon früher im Fokus der Ermittlungen stand, sich jedoch 1993 im Gefängnis getötet hatte. Bei einer früheren Hausdurchsuchung bei dem Friedhofsgärtner waren Waffen und Fesselungswerkzeug gefunden worden, damals jedoch nicht genau untersucht. Nun wurden an den Handschellen Blutspuren nachgewiesen, die von der vermissten Frau stammten. Ihr Leichnam wurde gleichwohl bis heute nicht gefunden.

In der Hamburger Rechtsmedizin gibt es indes als Cold Case auch mal „eine Leiche zu viel“, wie Institutsleiter Püschel sagt, also unbekannte Tote, bei denen regelmäßig überprüft wird, ob ihnen nicht doch eine Identität zugeordnet werden kann. Da gibt es etwa ein Skelett, das zusammen mit einem Stahlhelm auf Helgoland gefunden wurde. „Der Tote stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs“, so Püschel. „Er ist bis heute nicht identifiziert.“

Erfolgreich war die Rechtsmedizin beispielsweise bei einer Wasserleiche, von der jahrzehntelang die Identität nicht klar war. „Jetzt haben wir sie identifiziert, nach 35 Jahren mittels DNA-Analyse“, erzählt Püschel. Sehr vielversprechend ist auch die sogenannte Isotopen-Analyse, bei der bei unbekannten Toten anhand der individuellen Zusammensetzung der Isotope festgestellt werden kann, aus welcher Region Europas der Leichnam stammt.

Teile einer Moorleiche entdeckt

Auch die Radiokarbon-Methode, mit der kohlenstoffhaltige, insbesondere organische Materialien datiert werden können, hilft bei den Cold Cases. So verhielt es sich mit einem Leichnam, von dem im Jahr 2000 und 2005 Teile gefunden wurden. Zunächst wurde unter anderem überprüft, ob es sich um eine vermisste junge Frau handeln könnte, die 1969 verschwunden und vermutlich getötet worden war. „Doch später wurde anhand der Radiokarbon-Methode bewiesen“, so Püschel, „dass es sich um einen Uralt-Fall handelt.“Tatsächlich wurde nachgewiesen, dass die junge Frau etwa im Jahr 650 vor Christus lebte – und schließlich als „Moora“, Niedersachsens älteste Moorleiche, Berühmtheit erlangte.