St. Pauli. Drei Jahre nach der Flucht des US-Whistleblowers sprechen sein Anwalt und eine Filipina, die ihn versteckte, auf Hamburger Hackerkongress

Es ist die größte Veranstaltung, die in Hamburgs Kongresszentrum CCH stattfinden kann: Der 33. Kongress des Chaos Computer Clubs ist mit 12.000 Teilnehmern vollkommen ausgebucht. Im Saal 2 dreht sich am Mittwochabend alles um den weltberühmten „Whistleblower“ Edward Snowden und den NSA-Skandal.

Rückblende: Der Juni des Jahres 2013 war der wohl schwärzeste Monat in der jüngeren Geschichte der amerikanischen Geheimdienste. Am 9. Juni enthüllte Snowden, ehemaliger Systemadministrator der Dienste NSA, CIA und DIA, der rund 1,7 Millionen streng geheime Dateien aus der Schattenwelt der Spionage an die „Washington Post“ und den Londoner „Guardian“ geschickt hatte, seine Identität. Aus diesen Dateien, die die Zeitungen drei Tage zuvor öffentlich gemacht hatten, ging hervor, dass die amerikanischen Dienste und der britische GCHQ Millionen Bürger mittels ausgefeilter Spionageprogramme nicht nur in den USA und Europa, sondern in aller Welt überwachen und dabei jede Menge internationale Gesetze brechen. Seit diesem 9. Juni ist Snowden Ziel der größten Menschenjagd in der Geschichte der amerikanischen Geheimdienste.

Der damals 29 Jahre alte Snowden hatte die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong mit ihren besonderen Gesetzen als Ort für seine Enthüllung gewählt. Doch er hatte sich seltsamerweise nicht überlegt, wohin er anschließend verschwinden könnte. Der Mann mit dem Decknamen „Citizenfour“ wusste nicht mehr weiter – jeder Polizist in der Stadt suchte nach ihm, ferner zahllose US-Agenten und obendrein Journalisten aus aller Welt.

Doch plötzlich war Snowden wie vom Erdboden verschluckt. Erst am 23. Juni tauchte er am Flughafen Hongkong wieder auf, bestieg eine Aeroflot-Maschine nach Moskau und war von Stund an für seine amerikanischen Häscher nicht mehr zu erreichen. Die ganze Welt rätselte: Wo war Edward Snowden während dieser zwei Wochen, wie gelang es ihm, in der ihm völlig fremden Riesenstadt unterzutauchen?

Der investigative Journalist Sönke Iwersen vom „Handelsblatt“ hatte im September jenen Mann und seine vier Helfer ausfindig gemacht, die die Schlüsselfiguren in diesem Drama waren, und ihre Geschichte erzählt. Es war der kanadische Menschenrechtsanwalt Robert Tibbo, der das verwegene Versteckspiel in Hongkong organisiert hatte. Am Mittwochabend waren Tibbo und Iwersen in Hamburg, um im CCH über diese mysteriösen zwei Wochen zu reden – eingeladen vom Chaos Computer Club (CCC). Diese Organisation mit Sitz in Hamburg hat sich aus einem ­Hacker-Verein zu einer maßgebenden Nichtregierungsorganisation (NGO) in Sachen Computersicherheit entwickelt.

„Morgens um 6 Uhr des 10. Juni erhielt ich einen Hilferuf“, berichtete Tibbo. Er eilte zu Snowden und wurde dessen Anwalt. Und da er seit Jahren in Hongkong mit Flüchtlingen arbeitet, hatte er eine geniale Idee, um den jungen Whistleblower zu verstecken. Er bat vier Flüchtlinge – Ajith, einen früheren Soldaten aus Sri Lanka, Vanessa, eine Haushaltshilfe von den Philippinen, sowie das Paar Nadeeka und Supun, ebenfalls aus Sri Lanka – um Hilfe. Sie alle haben selber Furchtbares erlebt – Ajith wurde sogar schwer gefoltert –, aber sie waren sofort bereit, dem Gejagten zu helfen. „Flüchtlinge haben in Hongkong einen ähnlich niedrigen sozialen Status wie Unberührbare in Indien und leben meist in bitterarmen Vierteln“, sagte Tibbo. „Niemand kam auf die Idee, dort nach Edward Snowden zu suchen.“

Snowden schlief in ihren Betten, wurden von ihnen mit Essen und dem Nötigsten versorgt. Vanessa hatte keine Ahnung, wen sie beherbergte – bis Snowden sie bat, eine Zeitung zu ­kaufen. „Da wurde mir klar, dass ich den meistgesuchten Mann des Planeten ­beherbergte“, sagte Vanessa jetzt in einer Liveschalte aus Hongkong und ­erhielt frenetischen Applaus der Hamburger.

Da in Hongkong nur 0,3 Prozent aller Asylbewerber anerkannt werden, gingen die vier Retter selber ein großes Risiko ein. Drei lange Jahre schwiegen sie. Nach der Enthüllung ihrer Identitäten haben die Behörden inzwischen jegliche Unterstützung für „Snowdens Schutzengel“ eingestellt; sie leben allein von Spenden, die über die Webseiten „gofundme“ und „FundRazr“ hereinkommen. Tibbo versucht derzeit, die kanadische Regierung dazu zu bringen, sie aufzunehmen.