Hamburg. Große Debatte nach Abendblatt-Interview. Grüne sauer auf Koalitionspartner SPD. Vereinfachtes Referendum könnte Reform verhindern

Die Forderung von Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) und dem CDU-Fraktionsvorsitzenden André Trepoll nach einer Reform des Wahlrechts hat eine große Debatte in Hamburg ausgelöst. Beide hatten am Dienstag im Abendblatt-Interview gesagt, das aktuelle Zehn-Stimmen-Wahlrecht sei zu kompliziert und führe zu vielen ungültigen Stimmen und geringer Wahlbeteiligung. Über Reform-Details sind sie sich aber nicht einig.

SPD-Fraktionschef Andreas Dressel zeigte sich am Dienstag eher zurückhaltend. „Eine sehr behutsame Weiterentwicklung des Wahlrechts kann nur in einem sehr breiten Konsens gelingen“, sagte Dressel dem Abendblatt. „Die Meinungsbildung in der Koalition und in der SPD-Fraktion ist noch am Anfang. Wir wollen im Januar weitere Gespräche dazu führen.“ Auch mit dem Verein „Mehr Demokratie“, der großen Anteil an der jüngsten Entwicklung des Hamburger Wahlrechts hatte, werde man in den Dialog treten, so Dressel. Ein wichtiges Anliegen sei „die Reduzierung der Zahl der ungültigen Stimmen durch sachgerechte Heilungsvorschriften“.

Deutlich kritischer äußerte sich der Grünen-Verfassungspolitiker Farid Müller. „Wir Grüne sind mit dem gültigen Wahlrecht im Großen und Ganzen zufrieden“, so Müller. „Ein Ergebnis der Expertenanhörung im Verfassungsausschuss war, dass das Wahlrecht nicht Ursache der niedrigen Wahlbeteiligung ist. Eine Auswertung des Statistikamtes Nord hat im Übrigen ergeben, dass ein großer Teil der nur 2,8 Prozent ungültigen Stimmen dem SPD-Wahlaufruf ‚10 Stimmen für Olaf Scholz‘ zuzuschreiben ist. Umgekehrt haben 97,2 Prozent das Hamburger Wahlrecht richtig angewandt.“ Dabei kritisierte Müller auch Bürgerschaftspräsidentin Veit. „Ein gemeinsamer Vorschlag der Koalition wird durch öffentliche Vorschläge der Parlamentspräsidentin mit dem Oppositionsführer nicht wahrscheinlicher“, so Müller. Besonders wichtig sei ihm auch etwas anderes: „Es gibt in der Koalition keine Überlegungen zur Einschränkung der Volksgesetzgebung.“ Hintergrund ist Veits Aussage, sie wünsche sich eine höhere Mindestbeteiligung für Volksentscheide.

Die Linken-Abgeordnete Christiane Schneider hält nur „wenige kleine Korrekturen“ am Wahlrecht für nötig, um Fehlerquellen zu beseitigen. Das größte Problem sei die sinkende Wahlbeteiligung, so Schneider. „Wenn 40 bis 50 Prozent der Wähler, vor allem in benachteiligten Stadtteilen, von der Politik nichts mehr erwarten, dann ist das eine Krise des Parlamentarismus – und nicht ein Problem des Wahlrechts.“

Laut Fraktionschefin Katja Suding hält die FDP „prinzipiell an dem Wahlsystem mit der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens fest“. Verbessert werden könne das Wahlrecht „durch die Anpassung aller Wahlkreise an die großen, sodass überall fünf Kandidaten zur Wahl stehen“, so Suding. „Zudem ist hier auch die Einführung einer Listenstimme vorstellbar.“ In der Volksgesetzgebung halte die FDP ein Beteiligungsquorum für notwendig.

CDU-Landeschef Roland Heintze unterstützte den Vorstoß des Fraktionsvorsitzenden. „Es muss wieder jedem klar sein, was seine Stimme bedeutet“, sagte Heintze. „Daher wollen wir nur noch eine Stimme auf der Landesliste, die dann über die Mehrheit in der Bürgerschaft entscheidet.“

Manfred Brandt von „Mehr Demokratie“ sagte, er könne über die Vorschläge „nur den Kopf schütteln“. Wer etwas ändern wolle, „damit Wählerinnen und Wähler weniger Einfluss darauf haben, welche Personen sie im Parlament vertreten, der sollte auch den Mut haben, das klar zu benennen“, so Brandt. „Die angebliche Überforderung ist ein vorgeschobenes Argument - im Übrigen auch ein beleidigendes.“

Für eine Änderung des Wahlrechts wäre eine Zweidrittelmehrheit in der Bürgerschaft nötig, die weder die rot-grüne Koalition noch SPD und CDU erreichen. Sollte die Bürgerschaft eine Reform beschließen, hat diese aber nicht automatisch Bestand. Denn ihre Gegner könnten einen vereinfachten Volksentscheid über die Änderungen verlangen - ein sogenanntes „fakultatives Referendum“. Dafür müsste eine Initiative binnen drei Monaten rund 35.000 Unterschriften sammeln, was 2,5 Prozent der Wahlberechtigten entspricht. Die von der Bürgerschaft beschlossene Wahlrechtsänderung hätte nur Bestand, wenn ihr in dem Referendum mindestens 20 Prozent aller Wahlberechtigten zustimmen und sich insgesamt zwei Drittel der Abstimmenden für die Änderungen aussprechen. Es gilt als schwierig, eine so hohe Beteiligung bei so großer Zustimmung zu erreichen. Allerdings ist denkbar, dass zunächst das Verfassungsgericht entscheiden müsste, ob eine Anwendung des „fakultativen Referendums“ überhaupt zulässig wäre.

Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp sagte dem Abendblatt, es gebe „gute Gründe zu sagen: Dieses Wahlrecht ist kompliziert und schreckt gerade weniger gut gebildete Menschen vom Wählen ab.“ Der Wahlmodus trage dazu bei, „dass es bestimmten Wählern schlechter gelingt, den eigenen Willen auf dem Wahlzettel umzusetzen“, so Schnapp. „Zudem funktioniert die personalisierende Logik des Wahlrechts in einer Stadt von der Größe Hamburgs nicht. Die Wähler kennen die Kandidaten nicht besser, sie wählen allenfalls nach formalen Ähnlichkeiten wie Beruf, nur selten nach Kenntnis der Person.“

Gleichwohl plädiert Schnapp für eine Einigung mit „Mehr Demokratie“ über Änderungen, um weitere Reformen durch ein fakultatives Referendum oder neue Volksinitiativen zunächst auszuschließen. „Irgendwann gewöhnen sich die Menschen an das geltende Wahlrecht“, so Schnapp. „Es wäre gut, die Diskussion endlich einmal zur Ruhe kommen zu lassen. Man sollte die Bürger umfassend informieren – und sich an das Wahlrecht gewöhnen lassen.“